Die Flusswelt Der Zeit
schien, als sähe ich alles durch eine dicke Glasscheibe. Es war irgendwie unwirklich. Vielleicht war ich auch wirklich nicht da. Auf jeden Fall hat es mir keinen großen Schreck eingejagt.«
Monat zündete sich ein weiteres Marihuanastäbchen an. Das Licht der Zigarette gab genug Helligkeit ab, daß Burton ihn den Kopf schütteln sah.
»Wie barbarisch! Ihr habt eure Kriminellen also nicht nur getötet, sondern ihnen auch noch die Köpfe abgeschlagen! Und das in aller Öffentlichkeit! Und habt auch noch zugelassen, daß Kinder dabei zusahen!«
»In England war man ein bißchen humaner«, sagte Burton. »Da hat man die Verbrecher gehenkt.«
»Zumindest die Franzosen erlaubten dem Volk, dabei zu sein, wenn sie das Blut von Verbrechern vergossen«, sagte Monat. »Das Blut war damit auch an ihren Händen. Aber offenbar ist das niemandem bewußt geworden. Und jetzt, viele Jahre – sind es dreiundsechzig? – später sitzt du hier, rauchst etwas Marihuana und erschreckst dich über ein Ereignis, von dem du glaubtest, es würde dir niemals Probleme bereiten. Und erlebst plötzlich das Entsetzen, von dem du damals nichts bemerktest. Du hast geschrieen wie ein verängstigtes Kind. Ich glaube, daß die Droge in dir eine Mauer zum Einsturz gebracht hat, die du bereits vor dreiundsechzig Jahren in deinem Kopf errichtet hast, um dieses Erlebnis zu verdrängen.«
»Vielleicht«, gab Burton zu.
Er blieb ruhig sitzen. In der Ferne war rollender Donner zu vernehmen. Es blitzte. Dann rauschte der Regen herab und prasselte auf das blätterbedeckte Hüttendach. Auch in der vergangenen Nacht hatte es um diese Zeit – Burton schätzte sie auf drei Uhr morgens – zu regnen begonnen. Das vom Himmel herabstürzende Wasser machte dem Dach der Hütte arg zu schaffen, aber da man beim Bau mit äußerster Sorgfalt zu Werke gegangen war, regnete es nicht durch. Was den Boden anbetraf, so sah es ein wenig anders aus: Von der dem Hügel zugewandten Seite drang Wasser ein, auch wenn es nicht genug war, um sie ernsthaft zu durchnässen. Zum Glück hatten sie ihre Lagerstätten so hoch gemacht, daß das Regenwasser sie nicht erreichte.
Burton unterhielt sich mit Monat, bis der Regen eine halbe Stunde später aufhörte. Dann schlief Monat ein; Kazz war überhaupt nicht aufgewacht.
Obwohl sich Burton bemühte, wieder einzuschlafen, gelang es ihm nicht. Noch nie im Leben hatte er sich so einsam gefühlt und sich davor gefürchtet, wieder in einen Alptraum zu sinken. Nach einer Weile stand er auf, ging hinaus und auf die Hütte zu, die Wilfreda sich ausgesucht hatte. Noch bevor er über die Schwelle trat, roch er den Duft von Marihuana. Die Spitze einer Zigarette glühte in der Finsternis. Auf der aus Gräsern und Zweigen aufgeschütteten Lagerstatt saß eine nur in Umrissen erkenntliche Gestalt.
»Hallo«, sagte sie. »Ich habe darauf gehofft, daß du doch noch kommst.«
»Es ist einfach eine Sache des Instinkts, persönliches Eigentum zu besitzen«, sagte Burton.
»Ich bezweifle, daß es überhaupt irgendwelche Instinkte im Menschen gibt«, erwiderte Frigate. »In den sechziger Jahren – des zwanzigsten Jahrhunderts natürlich – gab es einige Leute, die zu beweisen versuchten, daß der Mensch über Instinkt verfügt, den sie den Territorialen Imperativ nannten. Aber…«
»Der Ausdruck gefällt mir«, sagte Burton.
»Ich dachte mir, daß er Ihnen gefällt«, meinte Frigate. »Aber Ardrey und andere versuchten nicht nur zu beweisen, daß der Mensch einem Instinkt folgte, wenn er gewisse Gebiete für sich selbst beanspruchte, sondern auch, daß er von einem Killer-Affen abstammte, was nationalen Grenzen, National- und Lokalpatriotismus, Kapitalismus, Kriege, Morde, Kriminalität und so weiter erklären sollte. Aber es gab auch eine Gegenseite, und die war der Ansicht, daß all diese Dinge lediglich eine natürliche Folge der kontinuierlichen Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaftssysteme seien, die sich schon von Anbeginn der Zeit mit Kriegen, Morden, Kriminalität und so weiter hätten auseinandersetzen müssen. Ändere die Kultur, und der Killer-Affe wird von selbst verschwinden. Und zwar deswegen, weil es ihn ebenso wenig je gegeben hat wie den kleinen Mann auf der Straße.
Der Killer ist nichts anderes als die Gesellschaft selbst, die mit jedem Schwung Neugeborenen weitere Killer hervorbringt. Allerdings hat es Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens gegeben, in denen diese Phänomene nicht aufgetreten sind. Gut, es hat
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