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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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etwa im Kontext der Drehungen des Rouletterades oder der Moleküle in einer Teetasse. Im Fall des TD-Learnings besteht der Kontext aus einer Reihe neuronaler Verbindungen im Gehirn und dem Spektrum der Erfahrungen, die das Individuum macht. Jede Erfahrung für sich kann nur eine winzige Veränderung der Synapsenstärke bewirken; durch vielfache Erfahrung kommt es aber insgesamt zu einem signifikanten Wandel. Wäre das nicht so – würde also schon ein Ereignis die Synapsenstärke beeinflussen –, so würde ein Tier seine neuronalen Verbindungen immer nur an der jüngsten Erfahrung ausrichten. Es würde sich neu einstellen je nach dem, was zuletzt passiert ist, und die vorausgegangenen Erfahrungen löschen. Die jüngste Erfahrung ermöglicht aber nicht unbedingt die beste Vorhersage für das, was als nächstes passiert – wenn wir einmal im Roulette gewonnen haben, heißt das nicht, dass wir bei der nächsten Runde wieder gewinnen. In einigen Fällen, besonders bei starker Bestrafung, reicht allerdings schon eine einzelne Erfahrung aus, um daraus zu lernen – ein gebranntes Kind scheut das Feuer. In der komplexen, unvorhersagbaren Welt, in der wir leben, ist es aber normalerweise besser, auf Grundlage allgemeiner Tendenzen zu lernen und nicht einfach durch die Wiederauflage der jüngsten Vergangenheit. Je weniger sicher wir uns unserer Umgebung sind, sei es aus Mangel an Erfahrung oder wegen der hohen Variabilität unserer Umwelt, desto mehr zahlt solches Lernen sich aus. Genau diese Form des Lernens bewirkt TD-Learning: Dadurch, dass die Synapsenstärken bei jedem Ereignis in einem unvorhersagbaren Kontext geringfügig angepasst werden, lassen sich eher prädiktive Tendenzen erlernen als durch einmalige Ereignisse. TD-Learning beruht auf dem Prinzip der Populationsvariabilität.
    Auch Persistenz ist eine Grundlage des TD-Learnings. Das ganze System würde gar nicht funktionieren, wenn es nach jeder Anpassung der Synapsenstärke wieder zur ursprünglichen Einstellungzurückkehren würde. Wir haben im vorigen Kapitel aufgezeigt, dass Veränderungen der Synapsenstärke kürzer oder länger erhalten bleiben. Dabei führt vielleicht die erste Erfahrungssequenz im Lernprozess zu kurzfristigen Veränderungen der Synapsenfunktion, steigert oder senkt also die Wirksamkeit einer Synapse. Über weitere Erfahrungen kumulieren diese kurzfristigen Veränderungen dann zu langfristigeren anatomischen Veränderungen, etwa in der Zahl der Synapsen. 71 Langfristige Veränderungen an den Synapsen können viele Jahre erhalten bleiben, wie es die folgende Anekdote von Charles Darwin illustriert.
    1836, kurz nach seiner Rückkehr von seiner fünfjährigen Seereise auf der Beagle , beschloss Darwin, das Gedächtnis seines Hundes zu testen. 72 Er ging zu dem Zwinger, in dem der Hund gehalten wurde, und rief nach ihm. Der Hund kam herausgerannt und ging glücklich mit Darwin spazieren, und er war genauso freudig erregt, als wäre sein Herrchen nur eine halbe Stunde weggewesen. Der Klang von Darwins Stimme konnte auch nach fünfjähriger Abwesenheit noch immer die gleiche Reaktion des Hundes auslösen. Aber diese Geschichte sagt uns vielleicht auch noch etwas über Darwins eigenes Gehirn. Darwin wurden in der Schule die antiken Klassiker beigebracht, und er musste häufig bereits vor der Morgenandacht 40 oder 50 Zeilen Homer auswendig lernen. 73 In Homers klassischem Epos, der Odyssee , kehrt Odysseus nach einer zehnjährigen Seefahrt in seine Heimatstadt zurück. Odysseus verkleidet sich als Bettler, um nicht erkannt zu werden; das aber kann seinen alten Hund Argus nicht täuschen, der beim Klang der Stimme seines Herrchens sofort aufhorcht und mit dem Schwanz wedelt. Darwin empfand das Aufsagen von Homer-Versen in der Schule als absolute Zeitverschwendung, da er sie zwei Tage später sowieso vergessen hatte. Vielleicht aber hatte die Geschichte von Odysseus in Darwins Gehirn doch ein paar langfristigere neuronale Verbindungen hergestellt, die unbewusst aktiviert wurden, als er von seiner langen Seereise heimkehrte, und ihn das Gedächtnis seines Hundes testen ließen. Darwin und sein Hund waren einander vielleicht ähnlicher, als er dachte.
    Populationsvariabilität und Persistenz sind zwei Schlüsselelemente des Lernens. Ohne Variabilität gäbe es keine Veränderungen der Synapsenstärken, und ohne Persistenz würde jede synaptische Veränderung gleich nach ihrem Aufbau wieder verschwinden.
    Auch Verstärkung spielt beim

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