Die Fotografin
bei Björn. Tief in deinem Inneren weißt du, dass es ganz anders ist. Deine Welt wird auseinanderbrechen, Adriana!“
„Für mich gibt es aber deine Welt nicht mehr. Du hast nie gelebt!“, sage ich laut in die Dunkelheit. Als ich endlich wieder genügend Luft bekomme, ist Isabelle Wagner bereits verschwunden und ich stehe wieder vor einer verschlossenen Tür. Noch ehe ich auf den Klingelknopf drücken kann, wird die Tür aufgerissen und zwei Jugendliche mit tief sitzenden Hosen und seitlich gedrehten Baseball Caps stürmen lachend nach draußen. Mich haben sie überhaupt nicht wahrgenommen. Für junge Leute bin ich mit meinen neununddreißig Jahren so gut wie tot.
18. Dienstag – nachts
Vier Aufzüge stehen zur Auswahl und ich drücke spontan den Knopf von Nummer drei, denn intuitiv glaube ich, drei wäre meine Glückszahl. Ist sie natürlich nicht, aber meine Familie bestand aus drei Personen, ehe Paul ertrunken ist. Isabelle Wagner wohnt im dreizehnten Stock, deshalb ist mir der Weg durchs Treppenhaus mit meinem verstauchten Knöchel auch viel zu beschwerlich. Ich muss also in diesen Aufzug steigen.
Der Fahrstuhl beunruhigt mich nicht und macht mir keine Angst. Er ist überraschend sauber, die Wände sind aus Alu und nicht mit Schmierereien bedeckt, wie das sonst so oft der Fall ist. Die Deckenbeleuchtung ist matt und der Spiegel an der rückwärtigen Wand nicht gesprungen oder fleckig, sondern frisch poliert. Im Spiegel sehe ich eine Frau mit blonden Haaren, die sie straff zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden hat. Ich sehe ein glattes ovales Gesicht, das noch leidlich ohne Falten ist. Einen Mund, der noch nicht zu einem dünnen Strich mit zwei frustrieren Einkerbungen links und rechts geworden ist. Ich sehe also eine Frau, die rein äußerlich für ihr Alter noch ziemlich gut aussieht und durchaus fünf Jahre jünger sein könnte. Aber ich sehe auch in ihre kornblumenblauen Augen und wenn ich ein bisschen genauer hinschaue, bemerke ich die Panik, die ganz hinten lauert und die jederzeit hervorbrechen kann, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.
Doch dazu wird es nicht kommen, denn der Aufzug ist gleich oben und dann habe ich es überstanden. Unmerklich stoppt die Fahrt plötzlich zwischen dem zehnten und elften Stock. Ich war so sehr in die Betrachtung meines Spiegelbildes vertieft, dass mir überhaupt nicht auffiel, dass sich der Aufzug nicht mehr bewegte.
Ruhe bewahren, nur nicht die Nerven verlieren! Schnell drücke ich auf den Alarmknopf, horche angespannt auf das schrille Klingeln, das in alten Aufzügen immer so beruhigend laut durch das Treppenhaus hallt. Aber in diesem Hochhaus ist davon natürlich nichts zu hören. Auch der Knopf für die Gegensprechanlage bleibt stumm, kein Rauschen, Summen oder Knacken im Lautsprecher, sondern einfach nur Stille. Es ist, als wäre die Gegensprechanlage überhaupt nicht mit der Außenwelt verbunden. Genervt suche ich in den Taschen meiner Lederjacke nach meinem Smartphone. Kann es aber nirgends finden. Da fällt mir wieder ein, dass Frieda ja meine beiden Handys einkassiert hat.
„Shit!“, fluche ich und klopfe noch einmal sämtliche Taschen meiner schwarzen Lederjacke ab. Doch ich finde nur leere Kaugummiverpackungen, zwei Kinokarten und eine schwarze, noch ungeöffnete Schachtel mit Präservativen. Was wollte ich damit? Ich weiß es einfach nicht!
Die Außenwelt ist plötzlich ganz weit weg. Ich bin in der Innenwelt gefangen und kann nicht hinaus. Gefangen in einer einen mal einen Meter großen Zelle mit Aluwänden, die eng wie eine zweite Haut gegen mich drücken.
Die Wände rücken näher, langsam rutsche ich nach unten, bleibe mit angezogenen Beinen in einer Ecke sitzen. Lege meinen Kopf auf die Knie. Versuche mir Bilder ins Gedächtnis zu rufen, auf denen ich durch eine Landschaft auf einen weit entfernten Horizont zulaufe. Es ist ein unbeschreiblich befreiendes Gefühl – keine Angst vor einem plötzlichen Atemstillstand haben, einfach die ganze Luft in seinen Lungen spüren.
Doch die Bilder verflüchtigen sich und die Luft wird knapp. Mein Atem wird hektischer und ich muss ständig schlucken. Ich merke auch, dass meine Beine zu zittern beginnen, darf aber meinen Kopf nicht heben, denn sonst würde ich ja die Wände sehen, die immer näher kommen und das würde nur meine Panik noch weiter verstärken. Also presse ich auch weiterhin den Kopf auf meine Knie und hoffe, dass dieses Zittern aufhört und dass ich meinen Atem kontrollieren kann.
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