Die Spieluhr: Roman (German Edition)
WIE DAS LEBEN IN DER RÜCKSCHAU aus einer Flut visueller Erinnerungen besteht, keinem rationalen System und ständiger Verwandlung unterworfen, so besteht ein kinemathographischer Film aus einer Unzahl systematisch montierter, unveränderlicher Bilder, die zusammengesetzt eine mehr oder weniger ergreifende Geschichte ergeben.
Ich bin Schauspieler, und um eine solche Geschichte zu erzählen, die die sonderbare Beziehung zweier durch alle Raster der Gesellschaft gefallener Menschen zum Gegenstand hatte, war ich auf Einladung einer Pariser Filmfirma vor einiger Zeit nach Frankreich gefahren und hatte in einem kleinen Dorf bei Meaux Quartier bezogen.
Das Zimmer, in dem ich wohnte, war die ehemalige Badekabine eines Schwimmbads, das sich am Ufer der Marne befand und irgendwann in ein Hotel umgebaut worden war.
Unterhalb der Wohnanlage floß still und träge der Fluß.
Bog man das dichte Gestrüpp an seinem Ufer auseinander, so zeigten sich unter den Ästen und Zweigen müde herabhängender Weidenbäume die Reste eines Schwimmbeckens, das einen Zugang zum offenen Wasser hatte und jetzt voller Frösche und reglos am schlammigen Grunde verharrender Fische war.
Etwas weiter flußabwärts stand ein Sprungturm aus porösem Stein, moosgrün sein Anstrich, jedoch vom Licht unzähliger Sommertage gebleicht, von Winterfrösten abgeblättert und an vielen Stellen kaum noch sichtbar.
Die Treppe, die hinauf zur Plattform führte, war eingestürzt, und am unteren Teil des verwitterten Geländers baumelte eine Kette, die angebracht worden war, als das Bad aufgegeben wurde und verhindern sollte, daß noch irgendwer hinaufstieg.
Aber niemand hatte mehr einen Sprung ins trübe Wasser des Flusses getan, und so war sie dort hängengeblieben, eine stumm vor sich hin rostende Erinnerung an Zeiten, da die Sommerluft erfüllt war vom Lärm und Lachen unzähliger Kinder, die im Wasser spielten oder auf dem Turm herumsprangen und sich schreiend in die Tiefe stürzten.
AN EINEM JENER HEITEREN, friedvollen Sommertage vor dem großen Sturm, der das alte Europa für immer hinwegfegte, spazierte ein elegant gekleideter Herr nicht weit von jener Stelle das grüne Ufer der Marne entlang.
Er trug einen modischen Strohhut mit geschwungener Krempe und blaßblauem Band, einen grauen, schmal geschnittenen Anzug, dazu Stiefeletten aus zweifarbigem Leder, hielt einen Grashalm zwischen den Lippen und seine Hände auf dem Rücken verschränkt.
Als er auf eine kleine Anhöhe kam, unter der der Fluß eine Biegung nahm, hob er den Kopf und schaute hinauf zu den weißen Wolken, die wie barocke Schiffe lautlos und in ungeheuren Höhen durchs Blau des Himmels segelten. Sie erinnerten ihn an Gemälde von Constable oder Corot, und um sie genauer zu betrachten, blieb er stehen, zog den Hut vom Kopf und legte sich ins Gras.
Der Sommerwind strich ihm sanft übers Gesicht, und als er nach einer Weile die Augen schloß, war sofort das kleine Bild wieder da, das er am Tag zuvor in der Wohnung seiner Vermieterin zufällig gesehen und ihr sogleich abgekauft hatte.
Ein Holztäfelchen, nicht viel größer als ein Blatt Papier, auf dem vor braunem Hintergrunde ein paar bunte Blumen gemalt waren.
Die Art der Ausführung verriet weder großes Talent noch technische Erfahrung, aber ihre schlichte Schönheit hatte ihn angerührt, und ihm schien etwas hinter diesem kindlichen Bilde zu schweben, das von einem Abgrund zeugte, der sich am deutlichsten in den fünf Blütenkelchen zeigte, die wie schwarze Sterne waren, aus denen Feuerschweife schlugen, oder auch Augen, die ihn aus dunkler Tiefe angstvoll anblickten.
»Verzeihen Sie, aber wer hat dieses Bild gemalt?« hatte er Madame Duphot gefragt, die ihm die große Wohnung im Unterstock ihres Hauses in Senlis für zwei Sommer zu vermieten geneigt gewesen war und bei der er nun zu Abend aß.
Und weil in seiner Stimme etwas Erregtes mitschwang, hatte sie ihn erstaunt angesehen, war der Richtung seiner Augen gefolgt und zeigte nun auf das bemalte Holztäfelchen, welches am Boden neben der Anrichte lehnte und gerade genug Licht auf sich zog, daß man es erkennen konnte.
»Ach das? Das ist nichts, Monsieur Uhde … Séraphine hat es mir geschenkt, Sie wissen doch, Ihre Putzfrau, sie malt. Nun ja, was man so malen nennt. Heutzutage tut das fast jeder, es ist geradezu eine Epidemie!
Sie ist ein wenig verrückt, wissen Sie, aber herzensgut und tut niemandem etwas zuleide.
Nehmen Sie es mit, wenn Sie es haben wollen, François
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