Eine ehrbare Familie
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Der Marktflecken Haversage, eingebettet in eine Talsenke, hatte Triumphe und Niederlagen in seiner langen Geschichte erlebt.
Die Railtons waren Nachfahren des normannischen Ritters Pierre de Royalton, der sich unter Wilhelm dem Eroberer 1066 auf dem Schlachtfeld von Hastings ausgezeichnet hatte. Zur Zeit Heinrichs VIII. kam die Familie nach Haversage, ließ das «de» fallen und nannte sich ohne Adelsprädikat Railton.
Die Railtons bauten ein großes Herrenhaus auf einem Hügel, genannt Redhill, widmeten sich der Landwirtschaft, führten Reformen durch und wurden dadurch zum Vorbild für andere Großgrundbesitzer. Ein Railton wohnte stets im Herrenhaus Redhill, verwaltete den ausgedehnten Besitz und kümmerte sich als Gutsherr um das Wohlergehen des Dorfes. Die anderen Familienmitglieder dagegen verteilten sich im Dienst ihres Monarchen über das britische Weltreich. Sie dienten in Heer oder Marine oder vertraten ihr Land als Diplomaten. Die besten von ihnen, die geborenen Patriarchen, kehrten nach Redhill zurück, um dort ihren Lebensabend zu verbringen.
Das hatte auch Sir William Arthur Railton getan, der in der Familie schlicht «Der General» hieß.
Die gesamte Familie hatte Weihnachten 1909 wie üblich in Redhill verbracht. Der jüngere Bruder des Generals, Giles, kam mit seinem Sohn Andrew, dem Marineoffizier, dessen Frau Charlotte und den drei Söhnen: Caspar und den Zwillingsbrüdern Rupert und Roy. Giles’ zweiter Sohn Malcolm war mit seiner jungen Frau Bridget aus Irland angereist, während Marie - Giles’ einzige Tochter - mit ihrem französischen Ehemann Marcel Grenot und ihren zwei Kindern Paul und Denise die beschwerliche Fahrt von Paris bis Haversage auf sich genommen hatte.
Auch des Generals eigene zwei Söhne waren dagewesen: Charles, der jüngere, mit seiner erstaunlich nachlässig gekleideten Frau Mildred und ihrer Tochter Mary Anne und John, der ältere, Politiker und Parlamentsmitglied, mit seiner jungen zweiten Frau Sara und James, seinem Sohn aus erster Ehe, die so tragisch geendet hatte.
Es waren für alle sehr glückliche Feiertage, denn die Festtage in Redhill hatten immer einen ganz besonderen Charme, und der General war in bester Stimmung gewesen.
Dienstag nach Weihnachten waren sie alle ihre getrennten Wege gegangen und hatten den General allein mit seinen Angestellten zurückgelassen: mit Porter, seinem alten Diener, der Köchin und deren Tochter Vera, die als erstes Hausmädchen diente, den zwei Zimmermädchen sowie Ted Natter, dem Stallknecht, Billy Crook, dem Hausburschen, und einigen anderen.
Giles Railton wollte Silvester bei seinem Sohn Andrew und dessen Frau Charlotte und seinen Enkeln verbringen. Es war früh am Nachmittag, und er war im Begriff, sein Haus in Eccleston Square zu verlassen, als Porter, der Diener des Generals, ihn mit erstickter Stimme anrief, um zu sagen, daß sein Herr einen plötzlichen Anfall erlitten habe.
Giles benachrichtigte sofort seinen Sohn Andrew, verschwieg aber den Ernst der Lage; dann nahm er den nächsten Zug nach Haversage, wo Ted Natter ihn mit dem Einspänner abholte.
Selbst an diesem trüben Abend wirkte der gelbrote Ziegelbau einladend wie immer - ein Anblick, der sich Giles tief ins Gedächtnis eingeprägt hatte, denn Redhill bedeutete für ihn seine Kindheit, die Schulferien, die ersten Reitstunden, Weihnachten, seine Eltern, Herbst und lange Winter, den Zyklus von vielen Frühlingen und Sommern.
Der Einspänner hielt in der hufeisenförmigen Auffahrt, und Giles blickte in die Höhe. Ein plötzlicher, schwacher letzter Wintersonnenstrahl blitzte an einem der in Blei gefaßten Fenster im zweiten Stock auf, als versuche Gott vergeblich, eine Hoffnungsbotschaft zu senden.
Der Arzt erwartete ihn mit der Krankenschwester. Auf dem sonst so betriebsamen Haus lastete die gedrückte und verschreckte Atmosphäre, die ein sich plötzlich nahender Tod verbreitet.
Der General lag bewußtlos, wie schlafend, im oberen Stockwerk. Nachdem der Arzt gesagt hatte, daß es nur noch eine Frage von Stunden sei, ließ Giles den jungen Billy Crook zu sich kommen und befahl ihm, hinunter ins Dorf zu laufen, um dem Pfarrer Bescheid zu sagen. Er bat die Krankenschwester, ihn bei irgendwelchen Veränderungen zu benachrichtigen, dann ging er mit berufsmäßiger Zielstrebigkeit ins Arbeitszimmer des Generals.
Das Zimmer lag an der Rückfront des Hauses und blickte nach Süden. Im Sommer konnte man durch die hohen Fenstertüren in den geschützten
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