Die Fotografin
zu fotografieren, denn es muss interessant aussehen, so auf der Kippe zwischen Wahn und Wirklichkeit. Aber meine Kamera liegt oben und kann mir jetzt nicht helfen.
Das Notstromaggregat brummt und die rote Lampe blinkt im Sekundentakt. Ich atme tief durch, packe den Aluminiumgriff, um den Deckel zu öffnen. Die Haftung der Gummidichtung hält den Deckel fest und es bedarf einer ziemlichen Anstrengung, ihn ein wenig anzuheben. Eiskalte Luft strömt mir entgegen, ich sehe zunächst nur schemenhaft Eisblumen und beschlagene Plastikfolien. Mit einem Ruck ziehe ich den Deckel ganz auf. Heftig knallt er gegen die Kellerwand und ich muss ihn stützen, damit er nicht wieder zurückfällt.
17:45 Uhr
Langsam senke ich den Kopf, beginne mit meinen warmen Handflächen die Eisblumen von der kleinen obersten Folie zu wischen, lege so Schicht für Schicht frei. Es ist genauso, als würde ich bei Dr. Mertens auf der Psycho-Couch liegen, nur dass es jetzt die eiskalte Wirklichkeit ist, die sich mit meinen Wahnvorstellungen zu decken beginnt. Zunächst sehe ich das blutverschmierte Designermesser aus meiner Erinnerung, das ich begierig aus seiner Folie schäle, wie um mir zu beweisen, dass ich nicht träume, dass ich nicht verrückt bin. Mit geschlossenen Augen wiege ich es in der Hand, streiche mit den Fingerspitzen über die mit eingetrocknetem Blut bedeckte Klinge.
„Das Messer existiert!“, flüstere ich und lege es behutsam wie einen kostbaren Schatz auf den Rand der Kühltruhe. Ja, ich fühle mich wie eine Schatzsucherin, eine Forscherin, die an dem Saum ihres Bewusstseins angelangt ist und gleichzeitig Angst und Begierde verspürt, ehe sie in die Abgründe ihres Denkens hinabsteigt.
Doch der wirkliche Schatz wartet noch auf seine Entdeckung und fesselt jetzt meine ganze Aufmerksamkeit. Konzentriert wie ein Forscher, der einen tausend Jahre alten Sarkophag vor sich hat, wische ich das Eis von der nächsten Folie, die die Länge der gesamten Kühltruhe einnimmt. Schicht für Schicht entblättere ich so einen indischen Prinzen und sehe das schwarze, von einem bläulichen Stich durchzogene schimmernde Haar. Ich sehe die samtigen Wimpern, schwarz und lang wie ein Vorhang. Ich sehe das wächsern bleiche und schöne, aber bereits von Totenflecken entstellte Gesicht von Talvin Singh. Ich sehe seine Haut, die einst so appetitlich wie Schokolade glänzte und die jetzt glanzlos, verschrumpelt und grau ist. Ich sehe seine sinnlichen Lippen, die jetzt rissig und bereits bläulich verfärbt sind. Doch es sind noch immer seine Lippen, die ich in der Erinnerung auf den meinen spüre. Das Blinklicht des Notstromaggregats taucht das Gesicht von Talvin in ein weiches Rot und mildert so die Gegenwärtigkeit des Todes. Ganz vorsichtig wische ich die Eisschicht von der Folie, sehe seine von Messerstichen zerfetzte Brust und überall das getrocknete Blut, das sich in rötlich braunen Bahnen seinen Oberkörper entlangzieht und in der Folie gesammelt hat.
Noch immer strömt mir eisige Luft entgegen, noch immer brummt das Notstromaggregat und noch immer liegt der tote Talvin Singh in der Gefriertruhe im Keller unseres Hauses. Draußen verwandelt ein Sommergewitter die Straßen in reißende Bäche und drinnen finde ich keine Zuflucht, sondern nur Tod und Verderben. Über mir ist es ruhig, denn Gregor und Marion haben aufgehört zu streiten. In einer kurzen Pause zwischen zwei Donnerschlägen höre ich schleppende Schritte, die sich der Kellertreppe nähern. Wieder lässt ein Donnerschlag unser Haus erbeben. Vor Angst zitternd halte ich beide Handflächen über meine Ohren. Ich will nichts mehr hören und sehen, aber dafür ist es bereits zu spät. Die Stimme trifft mich mitten ins Herz und sagt mir, dass ich am Ende angekommen bin.
„Adriana, Liebling! Ich komme jetzt zu dir runter!“
20. Mittwoch – abends
18:10 Uhr
„Keiner weiß, was passiert ist, Liebling! Niemand außer uns beiden. Das bleibt unser Geheimnis!“
Gregor steht vor der offenen Gefriertruhe und starrt wie gebannt auf den toten Talvin Singh. In der Hand hält er einen blutverschmierten Golfschläger, mit dem er in einem imaginären Takt auf den Boden klopft.
„Kennst du die Melodie?“, fragt er mich unvermittelt. Als ich nicht antworte, redet er weiter. „Es ist ‚Somewhere over the rainbow‘! Das war Pauls Lieblingslied. Ich musste es ihm immer vorsingen, wenn er nicht einschlafen konnte. Damals waren wir noch eine richtige Familie. Aber du hast alles kaputt
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