Die Frau des Germanen
ihr Ablenkungsmanöver gelang nicht. Severina spürte, dass sich jemand an ihre Seite schob. »Du benimmst dich wie eine
läufige Hündin«, zischte ihr eine Stimme zu.
Severina hob den Blick nicht. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Germanicus«, entgegnete sie ruhig. »Im Übrigen
hinkt der Vergleich. Eine läufige Hündin lässt jeden zu sich, wenn er nur Hund ist. Ich bin wählerisch.«
Die Worte, mit denen der Kaiser Arminius dafür dankte, dass er seinem Adoptivsohn Tiberius in der Schlacht das Leben gerettet
hatte, rauschten an ihr vorbei. Sie blickte wieder auf und sah nur das ernste Gesicht des jungen Germanen, die blonden Locken,
die hellen Augen, das kantige Kinn, die vollen Lippen |25| und seinen kräftigen Körper, die Muskeln seiner nackten Oberarme.
»Du weißt nichts von den germanischen Frauen«, raunte Germanicus ihr ins Ohr. »Arminius ist es nicht gewöhnt, sich von einer
Frau erobern zu lassen. In seiner Heimat sind die Frauen sittsam und keusch. Sie gehen als Jungfrauen in die Ehe.«
Severina lachte so glockenhell, dass der Kaiser erneut die Stirn runzelte und Arminius’ Hand, die er Augustus entgegenhielt,
zu zittern begann. Während der Kaiser ihm einen goldenen Ring als sichtbares Zeichen seiner Ritterwürde ansteckte, flüsterte
Severina ihrem Bruder zu: »Umso mehr wird es ihm gefallen, dass die römischen Frauen anders sind.«
»Sind sie das?«, fragte Germanicus zornig zurück. »Du bist anders, so viel steht fest. Ich hätte niemals eine Frau geheiratet,
die vor der Ehe herumhurt.«
Severina winkte ab. »Arminius ist als Kind nach Rom gekommen, er ist mehr Römer als Germane.«
Sie selbst war als Jungfrau in die Ehe gegangen, ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren. Aber ihre Ehe hatte nur vier Wochen
gehalten, dann war ihr Mann in einem unwürdigen Zweikampf gefallen. Seitdem war Severina frei in ihren Entscheidungen. Ihrem
Bruder gefiel es zwar nicht, dass sie sich die gleichen Rechte herausnahm wie ein römischer Adliger, aber wer wollte ihr etwas
anhaben? Germanicus war von Tiberius adoptiert worden, nachdem der selbst zum Adoptivsohn des Kaisers geworden war. Sie war
Germanicus’ Schwester, nach dessen Adoption also die Enkelin des Kaisers! Sie gehörte zur kaiserlichen Familie, niemand würde
es wagen, ihren Lebensstil zu kritisieren, der sich im Übrigen gar nicht so sehr von dem der anderen Damen der römischen Gesellschaft
unterschied. Keuschheit und Sittsamkeit waren Inbegriffe, die Germanicus noch so oft wiederholen konnte – das würde eine Römerin
nicht keusch und sittsam machen. Sollte Germanicus jemals Kaiser werden, was Severina nicht hoffte, dann würde es sicherlich
bald ein Gesetz geben, mit dem eine leichtlebige Römerin im Kerker landete. |26| Vielleicht sogar auf dem weißen Sand eines Amphitheaters. Seine Frau Agrippina, die beinahe jedes Jahr ein Kind von ihm bekam,
hatte es vermutlich nicht leicht mit ihm.
»Denk gelegentlich an die Lex Julia«, flüsterte Germanicus seiner Schwester zu.
Severina lachte leise. »Die Sittengesetze? Die gelten fürs Volk, nicht für die kaiserliche Familie.«
»Hast du Augustus’ Tochter vergessen? Sie ist verbannt worden wegen ihres unsittlichen Lebenswandels.«
Severina zog die Mundwinkel herab. »Der Kaiser musste ein Exempel statuieren. Und seine Tochter hatte es wohl zu toll getrieben.
Das ist alles. Mich geht das nichts an!«
Germanicus wandte sich ungehalten ab, und Severina beobachtete, wie Arminius von einem Adeligen zum anderen geschoben wurde,
von einer Hand zur anderen, von einem Glückwunsch zum nächsten. Tiberius’ Lebensretter wollte jeder zum Freund haben. Besonders
die Frauen! Severina lächelte, als Agrippina die Gelegenheit nutzte, mit einer flüchtigen Geste, die zufällig aussehen sollte,
Arminius’ Haar zu berühren. Sie wusste, wie sehr ihre Schwägerin das blonde Haar der Germanen bewunderte. Ob Germanicus das
auch wusste?
Severina hielt nach ihrem Bruder Ausschau, dabei streifte ihr Blick den zweiten blonden Offizier, der sich in diesem Raum
aufhielt. Genauso groß und kräftig wie Arminius, aber bei weitem nicht so charismatisch. Während Arminius von den Römerinnen
unverhohlen bewundert wurde, gönnte seinem Bruder Flavus niemand einen Blick. Auch Severinas Augen wanderten gleichmütig weiter.
Sie erwiderte seinen Gruß nicht, übersah seinen intensiven Blick, ging mit keinem Wimpernschlag auf das Werben ein, mit dem
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