Die Frau des Seiltaenzers
nur eine Versuchung des Bösen war, das in vielerlei Gestalt an jeden herantritt. Selbst der Herr Jesus bildete da keine Ausnahme.
Nach dem Ende des ersten Stundengebetes machten sich die Nonnen in der gleichen Aufstellung, in der sie gekommen waren, auf den Rückweg zum Dormitorium, um ihre Schlafstätten in Ordnung zu bringen. Beinahe angeekelt betrachtete Magdalena die Stätte ihres Sündenfalls.
Nach den Ordensregeln war es verboten, vor Sonnenaufgang auch nur ein lautes Wort zu sprechen. Die Blicke, welche die Nonnen austauschten, sprachen jedoch oft Bände. Verstohlen suchte Magdalena einen dieser Blicke aufzufangen, einen Blick, der ihr einen Hinweis gab auf die Person, die für das Geschehen der vergangenen Nacht verantwortlich war. Vergeblich.
Noch bevor der Tag graute, trafen sich die Nonnen im Refektorium zur Morgensuppe. Der Speiseraum, zwei Stockwerke unter dem Dormitorium gelegen, hatte dieselben Ausmaße wie der Schlafsaal. Allerdings gab es hier größere Fenster, welche obendrein mit Butzenscheiben verglast waren. Die Tische, auf denen das Essen aufgetragen wurde, standen in langer Reihe an den Wänden zu beiden Seiten, verbunden an der oberen Schmalseite durch einen einzigen breiten Tisch, an dem für gewöhnlich die Äbtissin Platz nahm.
Ihr stand auch der einzige Stuhl in dem lang gestreckten Refektorium zu, mit einer hohen Rückenlehne, die ihre Bedeutung unterstrich, im Übrigen aber schmucklos und ohne Schnitzereien war. Die gewöhnlichen Nonnen des Klosters teilten sich jeweils zu viert eine hölzerne Sitzbank.
Obwohl schon beinahe Sommer war, wurde nie ein Fenster geöffnet. Deshalb hing noch immer die klamme Winterkälte in dem alten Gemäuer, und als der hölzerne Trog mit der Morgensuppe – ein flüssiger Brei aus Milch, Wasser und Graupen – von zwei Nonnen hereingetragen und auf einem Schemel in der Mitte des Raumes abgestellt wurde, dampfte dieser wie der träge dahinströmende Fluss im Herbstnebel.
Ungeachtet klösterlicher Unterwürfigkeit und Demut, drängten sich die Nonnen um das dampfende Gefäß, aus dem jeden zweitenTag eine andere von ihnen die Morgensuppe mit einer hölzernen Schöpfkelle verteilte. Das Essgeschirr, eine Schale aus derbem Ton, hüteten die Nonnen wie ihren Augapfel, denn nur einmal im Jahr, an Lichtmess, wurden die dünnen Schalen erneuert. Wer seinen Teller zerbrach oder beschädigte, musste sich bis dahin mit einer Scherbe begnügen.
Es war strikt untersagt, bei der Essensverteilung viel oder wenig zu fordern. Aber zum Glück hatte der Schöpfer den Augen eine stumme Sprache verliehen, und so senkte Magdalena die Lider und deutete an, dass sie keinen Hunger verspürte. Der Gedanke an das Erlebnis der vergangenen Nacht löste bei ihr auf einmal Ekel aus vor jeder Art von Nahrungsaufnahme.
An diesem Morgen oblag es Hildegunde, die Morgensuppe auszuteilen. Beinahe ein halbes Jahrhundert klösterlicher Entsagung hatte der kleinen, dicklichen Nonne verhärmte Züge ins Gesicht gebrannt und einen boshaften Charakter verliehen. Ungeachtet der Geste Magdalenas, ja, mit einer gewissen Schadenfreude, klatschte sie eine übervolle Kelle Morgensuppe in ihr Essgeschirr, als wollte sie sagen: Hier, friss!
Doch dabei zischte sie: »Die Äbtissin will dich sprechen!«
Magdalena hielt kurz inne, blickte Hildegunde ins vertrocknete Gesicht, doch die zeigte keine Regung und wandte sich der nächsten Nonne zu. Magdalena war aufgefallen, dass die Äbtissin nicht zur Morgensuppe erschienen war. Das kam selten vor, eigentlich nur dann, wenn eine schwere Krankheit sie daran hinderte und sie das Bett hüten musste. Umso rätselhafter war es, wenn die Äbtissin sie in Abwesenheit einbestellte.
Angewidert starrte Magdalena auf die gräuliche Morgensuppe in ihrer Essschale. Und je länger sie ausharrte, desto dicker wurde die glibberige Haut, welche den Brei wie ein feuchtes Spinnennetz überzog. Magdalena ekelte sich immer mehr.
Die Nonne zu ihrer Linken, welcher der Vorgang nicht verborgen geblieben war, puffte sie mit dem Ellenbogen in die Seite, undMagdalena begann hektisch in dem Brei herumzurühren. Aber so sehr sie auch rührte, ihr Widerwillen wurde nur noch größer, und der Gedanke, sich den Brei einzuverleiben, verursachte ihr Brechreiz.
Dabei war Magdalena, was das Essen anbelangte, keineswegs heikel, wie manch andere Nonne aus feinem Adel. Die übergaben sich zur Fastenzeit reihenweise, wenn gebackene Frösche und gebratene Schnecken auf dem klösterlichen
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