Die Frau des Seiltaenzers
Tagen, die bei ihr den Eindruck hinterließen, als sei sie mehrmals im Kreis gelaufen, trat Magdalena aus dem triefenden Buchenwald. Vor ihr lag ein weites Tal. Tief dahinjagende, dunkle Wolken hingen über den Wiesen. Und dort, auf halber Strecke, wo das Tal wieder zu einer Höhe anstieg, lag das mächtige Anwesen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Während der vier Jahre im Kloster Seligenpforten war ihr dieser Anblick stets im Gedächtnis geblieben: das stolze Herrenhaus mit den Wirtschaftsgebäuden zu beiden Seiten.
Magdalena raffte ihre vom Regen schwer gewordenen Röcke mit beiden Händen und begann bergab zu laufen, wie sie es als Kind oft getan hatte. Mit einem Sprung setzte sie über den Bach, der das Tal in zwei ungleiche Hälften teilte. Dann hielt sie keuchend inne. Wie würden ihr Vater und Bruder reagieren, wenn sie so unerwartet auftauchte?
In Gedanken versunken, erreichte Magdalena den Hof. Die Eingangstüre war verschlossen. Magdalena klopfte einmal und noch einmal. Schließlich wurde die Türe geöffnet, und ein unbekanntes Gesicht blickte misstrauisch aus dem Türspalt.
»Ich bin Magdalena. Ist mein Vater zu Hause?«
Die Frau im Türspalt gaffte sie wortlos an. Sie war etwa im selben Alter wie Magdalena.
»Deinen Vater haben sie vor zwei Jahren zu Grabe getragen«, antwortete die Unbekannte barsch.
»Tot?« Magdalena schluckte.
»Die beiden wurden von einer umstürzenden Buche erschlagen.«
»Die beiden?«
»Vater und Sohn – Gebhard, mein Mann. Ich bin Gebhards Witwe.«
»Die Frau meines Bruders Gebhard«, murmelte Magdalena tonlos vor sich hin. Zu plötzlich stürzte die Nachricht auf sie ein. Sie fand nicht einmal Gelegenheit zu trauern.
»Ich weiß«, fuhr die fremde Frau fort, und ihre Stimme klang verhärmt, »euer Verhältnis war nicht das beste. Aber schlecht geredet hat Gebhard nie über dich. Ich dachte, du bist eine Nonne geworden und verbringst deine Tage im Kloster?«
»War ich auch bis vor wenigen Tagen. Ich bin fortgelaufen …«
»Ach, und jetzt glaubst du, bei mir Unterschlupf zu finden? Oh nein.«
»Nur für ein paar Tage, bis sich das Wetter bessert und mir klar wird, wo ich eigentlich hin will. Gott soll es dir lohnen!«
»Hör auf mit dem dummen Gerede von Gott! Wo war er denn, als mein Ehemann und mein Schwiegervater ums Leben kamen? Welch unverzeihliche Sünde habe ich begangen, dass mir das widerfahren ist? – Und jetzt verschwinde!« Krachend fiel die Haustüre ins Schloss, und Magdalena vernahm, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
Eine Weile stand sie wie gelähmt, unfähig, das Gehörte zu begreifen. Doch dann überkam sie eine ungeheuere Traurigkeit, und ihr war, als stürzte sie in einen Abgrund. Schließlich drehte sie sich um und begann zu laufen, nur fort von hier, fort von dem Ort ihrer Kindheit, die sie in so guter Erinnerung hatte.
Magdalena überquerte den Bach und hetzte bergan, als sei eine Hundemeute hinter ihr her. Erschöpft lehnte sie sich oben am Waldrand an den glatten Stamm einer Buche und ließ sich auf die feuchte Erde gleiten. Mit angezogenen Beinen vergrub sie ihr Gesicht in beiden Armen. So ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Sie wusste nicht, wie lange sie in dieser Haltung und in trüben Gedanken verharrt hatte. Das Knacken von Ästen holte sie in die Gegenwart zurück. Als Magdalena aufblickte, stand eine hochgewachsene Erscheinung vor ihr, ein hünenhafter Mann mit einer Holztrage auf dem Rücken, beladen mit dürren Ästen. Magdalena rappelte sich hoch und wich ängstlich zurück. Der Holzsammler schüttelte heftig den Kopf und hob beide Hände, als wollte er sagen: Ich tue dir nichts.
Magdalena zögerte, hielt inne und nahm den Unbekannten näher in Augenschein. Schließlich trat sie auf den Mann zu und fragte zögernd:
»Bist du nicht Melchior, der Knecht?«
Der Hüne nickte stürmisch, und dabei erhellte sich sein finsteres Gesicht zu einem überschwänglichen Lachen. Die Last der hoch aufgetürmten Äste brachte seine Holztrage ins Wanken und den baumlangen Mann aus dem Gleichgewicht. Er stürzte rücklings ins Gras. Und als er so dalag, hilflos wie eine Schildkröte auf dem Rücken und glucksend vor Vergnügen, da musste auch Magdalena lachen. Sie lachte laut und herzlich. Unvermittelt kam ihr der Gedanke, dass es Jahre her war, seit sie zum letzten Mal so ausgelassen gelacht hatte.
Von einem Augenblick auf den anderen hatte sie die Erinnerung an früher eingeholt, als sie mit dem taubstummen Knecht auf den
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