Die Frau des Seiltaenzers
weil sie Melchior sprechen hörte.
»Komm endlich!«, wiederholte Melchior ungehalten und drängte Magdalena zur Balkenleiter. Der stinkende Rauch und die immer höher züngelnden Flammen ließen Magdalena kaum Gelegenheit, sich ihrer Nacktheit zu schämen. Melchior folgte ihr. Unten angelangt, warf sich Magdalena ihr Kleid über, zog Haube und Schuhe an und sah den Knecht fragend an. Der öffnete das hintere Scheunentor einen Spalt, fasste Magdalena am Unterarm und zog sie nach draußen ins Freie.
»Ich habe Angst«, stotterte Magdalena. »Die Scheune und der ganze Hof werden abbrennen!«
Melchior tat, als hörte er ihre Worte nicht, und zog Magdalena mit sich fort.
»Komm!«, hörte sie ihn stammeln. Dann begannen beide zu laufen, immer den Bach entlang in Richtung Osten, wo ein matter Lichtschein aufkam. Einmal blieben sie kurz stehen, blickten zurück und hielten mit gepressten Lungen ihren Atem zurück. Sie lauschten in Richtung des rötlichen Scheins über den Baumwipfeln. Man hörte entferntes Hundegebell, blökende Kühe und wildes Geschrei. Melchior stieß Magdalena weiter. Von panischer Angst getrieben, man könnte sie als Brandstifter verfolgen, rannten sie, bis Magdalena stolperte und kraftlos zu Boden sank.
»Ich kann nicht mehr«, keuchte sie, »lauf du allein weiter.«
Melchior zeigte keine Reaktion. Wie abwesend blickte er zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schließlich setzte er sich neben Magdalena ins Gras. Ohne einander anzusehen, starrten beide vor sich hin.
»Ich dachte, du hättest die Sprache wiedergefunden«, sagte Magdalena. Sie kämpfte noch immer mit dem Atem und hatte keine Antwort erwartet. Doch dann vernahm sie die hilflosen Worte:
»Das Feuer – Flammen – der schwelende Boden – wie damals …«
Magdalena sah Melchior zweifelnd und ratlos an. »Mein Gott«, sagte sie leise. Und noch einmal: »Mein Gott!«
Dann fielen beide wieder in endloses Schweigen.
Obwohl ihr tausend Fragen auf der Zunge brannten, wagte Magdalena nicht, auch nur eine davon zu stellen. Und Melchior war von dem Geschehen so überwältigt, dass es ihm den Hals zuschnürte.
Der Tag graute und vertrieb die Morgendämmerung. Schließlich erhob sich Melchior und reichte Magdalena wortlos die Hand, damit sie ihm folgte. Es mochten eine Meile oder zwei gewesen sein, die sie schweigend nebeneinander hergingen, als Melchior mit gesenktem Kopf und stockend zu reden begann. Bisweilen verhaspelte er sich, rang nach den richtigen Worten oder begann einen Satz von Neuem.
Er wolle, ließ Melchior sie wissen, nicht mehr zurück auf das Hofgut der Witwe. Gewiss würde er der Brandstiftung verdächtigt, denn seit dem Tod ihres Vaters und Bruders habe er viele Feinde gehabt. Vor allem die Witwe. Sie habe ihm mehr als einmal gedroht, ihn vom Hof zu jagen. Und wenn sie, Magdalena, wolle, werde er sie auf ihrem Weg in eine neue Zukunft begleiten und beschützen.
Magdalena schüttelte den Kopf: »Melchior, wie stellst du dir das vor? Ich habe selbst keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Als ich aus dem Kloster floh, habe ich auf die Hilfe meines Vaters gesetzt.Aber jetzt, da ich weiß, dass er tot ist, bleibt mir nur noch eine Möglichkeit: Ich will zurück nach Seligenpforten und werde wohl mein Leben hinter Klostermauern verbringen müssen.«
Dann wolle er sie eben nach Seligenpforten begleiten, erwiderte Melchior. Er selbst werde später auf einem der Flusskähne anheuern, die mainabwärts bis Mainz und dann auf dem Rhein bis nach Holland führen. Magdalena stimmte schließlich zu.
Zügigen Schrittes folgten sie dem Bachlauf, meist schweigend, durchquerten mit dem Wasserlauf lichte Laubwälder, wie sie heimisch sind in der Gegend des Steigerwaldes, und stapften über großflächige Wiesen, auf denen es weit und breit keinen Weg gab, nicht einmal einen Trampelpfad.
In das ermüdende Trotten hinein fragte Magdalena: »Wohin gehen wir eigentlich? Ich kann nicht mehr.«
»Nach Ochsenfurt«, entgegnete Melchior knapp und ohne auf Magdalenas Erschöpfung Rücksicht zu nehmen.
»Und woher weißt du, dass unser Weg nach Ochsenfurt führt?«
Mit dem Zeigefinger wies Melchior auf das fließende Gewässer: »Der Bach mündet bei Ochsenfurt in den Main. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn es dunkel wird, werden die Stadttore geschlossen. Komm!«
»Ich kann wirklich nicht mehr«, jammerte Magdalena. Der Saum ihres langen Kleides hatte sich wieder einmal auf dem feuchten Waldboden vollgesogen und
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