Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
Vom Netzwerk:
Geschichten sammelt, wird unsterblich«, sagte der alte Mann. Eine dieser Geschichten geschah sieben Häuser weiter. Sie handelte vom Lautenspieler Samir. Abends hörte man ihn spielen, und wenn meine Eltern und die Nachbarn die melancholische Melodie der Laute vernahmen, verstummten sie für einen Augenblick und nickten begeistert. Doch ihr Mund besiegte ihre Ohren, und so erhoben sich ihre Stimmen wieder und verdeckten die Klänge der Laute.
    Der Fliesenleger Samir war ein schweigsamer Mann von gut dreißig Jahren. Nach der harten Arbeit duschte er, rasierte sich, ölte sein Haar, wie es damals Mode war, und zog sein schneeweißes arabisches Gewand an. Dann stolzierte er wie ein glücklicher Bräutigam zur Haustür, warf einen Blick auf die Gasse, bevor er zu seiner Braut, der Laute, zurückkehrte, sie umarmte und ihr die schönsten Töne entlockte. Seine Frau machte sich nichts daraus. Sie war einespröde Bauerntochter. Ich kannte sie nur schwanger, fünf, sieben oder neun Kinder hatten die beiden.
    Welcher Teufel ritt ihn plötzlich, dass er sich von einem Emigranten den Kopf verdrehen ließ, Frau und Kinder zurückließ und ohne Abschied mit seiner Laute nach Brasilien durchbrannte? Man hörte nie wieder von ihm, aber die irrsinnigsten Gerüchte über sein Verschwinden machten die Runde.
    Seine Frau wurde verrückt und erzählte von Papageien, die zu ihr kamen und ihr von der Sehnsucht ihres Mannes erzählten.
     
    Stimmengewirr, ein Streit zwischen zwei Nachbarn und dazwischen ein alter Mann, der die Streithähne mit einer Geschichte zu besänftigen versucht. An jenem Tag scheiterte er, aber von einem kleinen ängstlichen Jungen wurde er dennoch vergöttert. Der Mann war der Kutscher Salim und der Junge war ich.
    Auch entsetzte Schreie drängen sich in meine Erinnerungen. Eine Verhaftungswelle brachte Trauer und Wut unter die Dächer von Damaskus. Meine Familie, die bis zu jenen Jahren der Union mit Ägypten (1958–1961) derartige Gewalt noch nie erlebt hatte, ging durch die Hölle. Ich war dreizehn, als man meinen Vater vor meinen Augen verhaftete. Das Nasser-Regime verbreitete Terror, statt für das versprochene Paradies der vereinigten arabischen Nation zu sorgen. Es herrschte Angst, als der erste Spitzel in unsere Gasse einzog. Es war, um in der Sprache der Industrie zu sprechen, eine neue Generation von Spitzeln. Sie agierte nicht mehr geheim, wie es sonst üblich war, sondern ungeniert und offen. Die Spitzel trugen eine große Pistole unter ihrem Hemd, die für jedermann sichtbar war. Deshalbnannte ich sie nicht Spitzel, sondern »Angstmacher«, denn es war ihre oberste Aufgabe, die Menschen einzuschüchtern.
    All diese Personen, lange Zeit in meinem Gedächtnis zu Hause, bevölkerten später meine Romane, aber ich vermute, sie fühlten sich in den bequem eingerichteten Räumen meines Erinnerungsparadieses wohler als mit Druckerschwärze auf Papier gepresst. Sie kehrten schnellstens zu mir zurück, hocken seither in meinem Kopf und melden sich bei jeder Gelegenheit zu Wort, nicht laut, sondern schüchtern murmelnd. Und Murmeln gehören auch zu dem Spiel, ohne dessen Zauber meine Kindheit ärmer gewesen wäre. Meine Erinnerung daran bleibt frisch: ein wunderbarer Zeitvertreib.
    Spielen gehört zu den Urtätigkeiten des Menschen, aber es ist keine Erfindung des Menschen, wie die Sprache oder die Steuer. Auch Tiere spielen. Spielen ist kein Luxus. Das Bedürfnis nach Spiel meldet sich, sobald das Überleben für den Augenblick gesichert ist. Man spielt mit anderen und auch mit sich selbst. Man spielt mit seinen Fingern, mit Kieselsteinen, Stoffresten, Bällen, und wenn gar nichts da ist, spielt man mit der Sprache, und wenn auch sie nicht zugänglich ist, spielt man mit Gedanken.
    Ich habe oft Kinder in Damaskus beobachtet, die in bitterer Armut lebten und die ihren Eltern helfen mussten, sie waren Bettler, Steinschlepper, Verkäufer in der sengenden Sonne, Handlanger bei Schlossern, Bäckern und Tischlern. Sobald aber die Aufsicht der Eltern nachließ, spielten die Kinder und vergaßen nicht nur ihr Elend, sondern auch ihre Umwelt. Erst durch das Schimpfen ihrer Eltern oder eine Ohrfeige wurden sie in die Realität zurückgeholt.
    Spielen ist eine zauberhafte Möglichkeit, einen Augenblick lang Kinder in Erwachsene und Erwachsene in Kinder zu verwandeln. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass Erwachsene beim Spielen mit Kindern die Geber und Kinder die Nehmer seien – eine Einbahn-Ideologie, die

Weitere Kostenlose Bücher