Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Produktion voll zu automatisieren. Damit übernahmen sie die führende Position, bis die Japaner sie in den fünfziger Jahren von dem Platz verdrängten. Heute steht Mexiko bei der Murmelproduktion an erster Stelle.
Die Murmeln werden heute aus diversen, manchmal sehr edlen Materialien hergestellt, aber Glas bildet das Ausgangsmaterial für die meisten Murmeln überall auf der Erde.
In Deutschland konnte man in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts meinen, Murmeln seien ausgestorben. Aber seit Anfang der neunziger Jahre feiern sie ein Comeback, nicht nur als dekoratives Element in Haus und Garten, sondern auch als Spiel. Es gibt inzwischen viele Klickervereine, und seit 1996 werden sogar Meisterschaften im Murmelspiel ausgetragen. Die erste Meisterschaft fand im Oktober 1996 in Erfurt statt. Aber auch international erlebt das Murmelspiel eine Renaissance. Jährlich am Karfreitag treffen sich die besten Murmelspieler der Welt im kleinen englischen Ort Tinsley Green nahe London, um die Weltmeisterschaft auszutragen.
Bei keinem anderen Spiel kehre ich so unvermittelt in meine Kindheit zurück wie beim Murmelspiel. Immer wieder zieht es mich an, wenn ich Kinder mit Murmeln spielen sehe. Augenblicklich taucht meine Gasse auf, und in dieser Gasse hocke ich vor einer Menge Murmeln und spiele leidenschaftlich. Ich sehe mich auf dem Boden knien und mit meiner letzten Murmel auf eine andere zielen. Ich spüre heute noch, wie mein Herz damals raste. Unter den zuschauenden Kindern herrschte explosive Ruhe. Ich hatte einen schlechten Tag, aber die Hoffnung verzauberte schließlich doch meine Hand, und ich traf die Murmel aus fast drei Meter Entfernung und gewann über zehn weitere hinzu. Der Tag war gerettet.
Tage kommen mir in Erinnerung, an denen ich mit von Murmeln prall gefüllten Hosentaschen nach Hause ging, die Taschen in eine kupferne Schale entleerte und jede einzelne Murmel in die Hand nahm und gegen das Licht hielt, um ihre besondere Schönheit zu genießen. Es gab damals keine einzige Murmel, die der anderen glich. Auch heute gibt es Murmeln, die wahre Kunstwerke sind.
Doch lange kann ich nicht im warmen Gefieder der Siege verweilen, denn dann melden sich die Niederlagen an der Tür meiner Erinnerungen. Es waren Tage, an denen ich mit schmerzendem Handrücken und leeren Taschen nach Hause kam. Aber die Nacht heilte die Wunden, und am nächsten Tag zogen mich die Murmeln wieder in ihren Bann.
Damals gehörte die Straße mit all ihren Geheimnissen und Abenteuerecken uns Kindern. Sie war wie eine verschlossene Muschel, die dem Kenner eine Perle freigibt. Schatzkammern, Verstecke und geheime Treffpunkte bot meine Gasse. Das Haus neben der Pauluskirche war der Treffpunkt unserer Kinderbande. Es gehörte Samir, der im tropischen Wald verschwunden war. Die Erben stritten um das Haus, und es verfiel von Jahr zu Jahr. Der Innenhof dieses Hauses war ein Dschungel und deshalb die beliebteste Schatzkammer der Kinder. Hier versteckte ich alle Spielgewinne, die ich nicht mit nach Hause nehmen durfte, da diese Schätze, ob Dattel-, Oliven- oder Aprikosenkerne, Kronkorken, Muscheln oder Tierknochen, für meine Eltern nur Dreck bedeuteten. Wir sprachen dieselbe Sprache, doch wir gehörten zwei verschiedenen Völkern an. Meine Schätze, die mir ungeheures Ansehen verschafften und Freude bereiteten, erzeugten bei meinen Eltern nur ein verkrampftes Gesicht und den Satz: »In die Mülltonne damit!«
Heute hat die Straße keine Geheimnisse mehr, die Erwachsenen haben sie beschlagnahmt, begradigt und verbreitert und ihren Zauber zerstört. Bleich und formlos wie eine verwitterte Muschelschale liegt sie nun da, offen und leer.
Vielleicht waren wir als Kinder nie so satt, so gehätschelt und vor jedem Schaden sicher und versichert wie die Kinder heutzutage, doch wir hatten die Straße. Wir dehnten die Kindheit aus, so lange es ging, heute aber ist die Welt voller Pläne, wie man Kinder am schnellsten zu Erwachsenen macht. Kindheit ist nicht mehr ein Abschnitt im Leben eines Menschen. Kindheit ist vielmehr ein Lebewesen, das wie so viele liebenswerte Lebewesen nach und nach ausgerottet wird. Die Kinder der Welt gehören nicht ihren eigenen Völkern, sie sind vielmehr ein über den Erdball verstreutes Volk, das nun, besiegt durch das Volk der Erwachsenen, zu den Bedingungen der Überlegenen lebt.
Neben Aramäisch und Arabisch lernte ich in der Schule Französisch und Englisch. Auf der Straße aber brachte mir
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