Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
jedem Kind mit einem einzigen Satz Lob aus. Manche wurden für ihre Intelligenz gelobt – »Das hast du gut gemacht, du bist wirklich klug«, andere für ihre Mühe – »Das hast du gut gemacht, hast dir wirklich große Mühe gegeben«. Das Resultat war dramatisch. Jene Schüler, die für ihre Anstrengungen gelobt worden waren, legten eine größere Bereitschaft an den Tag, neue Herangehensweisen auszuprobieren. Sie bewiesen auch größeres Durchhaltevermögen und neigten dazu, Fehler ungenügender Anstrengung und nicht mangelnder Intelligenz zuzuschreiben. Die Kinder aber, die für ihre Intelligenz gelobt worden waren, tendierten zu Aufgaben, die bestätigten, was sie bereits wussten und legten deutlich weniger Ausdauer an den Tag, wenn die Probleme schwieriger wurden. Die Freude darüber, »klug« genannt worden zu sein, wich wachsender Sorge und einem sinkenden Selbstwertgefühl sowie abnehmender Motivation und Leistung. Als die Schüler dann von den Wissenschaftlern gebeten wurden, Kindern einer anderen Schule von ihren Erfahrungen zu berichten, logen einige der »klugen« Kinder und gaben vor, bessere Punktzahlen erreicht zu haben. Kurz gesagt, es hatte nur einen einzigen Satz des Lobes gebraucht, um das Selbstvertrauen dieser jungen Menschen zu erschüttern und sie so unglücklich zu machen, dass sie zu lügen begannen.
Warum ist es uns so wichtig, unsere Kinder zu loben?
Wir loben sie unter anderem, um uns zu beweisen, dass wir uns von den eigenen Eltern unterscheiden. In Ein Geschenk des Himmels schreibt Anne Enright: »In der alten Zeit – wie wir die 1970er in Irland nennen – tadelten Mütter ihre Kinder fast automatisch … ›Ein Satansbraten ist sie‹ seufzten die Mütter: oder: ›Auf der Gasse ein Engel, daheim ein Bengel‹, oder auch, meinen Lieblingsspruch: ›Sie bringt mich noch mal ins Grab.‹
Das war Teil der Kindheit in einem Land, in dem jegliches Lob tabu war.« [1] Natürlich galt dies nicht allein für Irland. Vor kurzem erzählte mir ein Londoner mittleren Alters: »Meine Mum hat mir Sachen an den Kopf geworfen, die ich meinen eigenen Kindern niemals sagen würde – Oberschlaumeier, vorwitziges Gör, Angeber. Heute, vierzig Jahre später, würde ich ihr am liebsten zurufen: ›Was ist denn so schlimm daran, wenn man mal ein bisschen angibt?‹«
Wo immer sich heutzutage kleine Kinder herumtreiben – auf dem Spielplatz, bei Starbucks oder im Kindergarten – hört man wie Hintergrundmusik unentwegt: »Guter Junge«, »gutes Mädchen«, »du bist die Beste«, »du bist der Beste«. Wenn wir unsere Kinder loben, mag dies kurzfristig unser Selbstwertgefühl heben, da wir unserer Umgebung signalisieren, was für phantastische Eltern wir doch sind und welch wunderbare Kinder wir haben – das Selbstwertgefühl des Kindes stärken wir damit allerdings kaum. Indem wir so angestrengt versuchen, uns von unseren Eltern zu unterscheiden, benehmen wir uns im Grunde genau wie sie – verteilen bedeutungsloses Lob wie die ältere Generation gedankenlos kritisiert hat. Tun wir das, um nicht über unser Kind und dessen Welt nachzudenken oder auch darüber, was unser Kind fühlt, sind Lob wie Kritik letztlich nur Ausdruck unserer Gleichgültigkeit.
Was mich zur ursprünglichen Frage zurückbringt: Wenn Lob nicht das Selbstwertgefühl des Kindes stärkt, was dann?
Kurz nach Abschluss meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker redete ich mit der achtzigjährigen Charlotte Stiglitz über dieses Problem. Charlotte – die Mutter des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz – unterrichtete seit vielen Jahren leseschwache Kinder im Nordwesten Indianas. »Ich lobe kein Kind für etwas, das es längst können sollte«, erzählte sie. »Ich lobe es, wenn ihm etwas wirklich Schwieriges gelungen ist – etwa ein Spielzeug abzugeben oder Geduld zu haben. Ich finde es auch wichtig, mich zu bedanken. Wenn ich einem Kind eine Kleinigkeit zu essen holen soll und mir dafür zu viel Zeit lasse oder wenn ich zu spät zur Hilfe komme und das Kind geduldig war, dann bedanke ich mich bei ihm. Aber ich würde kein Kind loben, das spielt oder liest.« Also keine großen Belohnungen, keine schlimmen Strafen – Charlottes Interesse galt dem, was ein Kind tat und wie es das Kind tat.
Einmal sah ich Charlotte mit einem vierjährigen Jungen, der malte. Als er aufhörte und zu ihr hochsah – vielleicht, weil er ein Lob erwartete –, lächelte Charlotte und sagte: »Da ist aber viel Blau in
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