Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
durchleben können, ohne etwas dabei zu empfinden. Dass Sie nicht nur den Kopf über Wasser halten, sondern sich auch gegen das mangelnde Interesse Ihrer Eltern abschotten können.«
»Haben Sie eine Vorstellung davon, was passiert, falls ich mich nicht abschotte?«, fragte sie. »Wenn meine Eltern herausfänden, was ich wirklich denke, wäre dies das Ende von dem bisschen Beziehung, das uns noch geblieben ist. Ich kann mit ihnen einfach nicht über das reden, was mich beschäftigt. Das ginge schief. Und meine Mom würde leugnen, irgendwas aggressiv zu meinen – sie würde sagen: ›Aber es ist doch nur ein Foto, Honey.‹« Lily verstummte. »Das funktioniert, Mr Grosz – es funktioniert.«
Am Anfang der Analyse war mir aufgefallen, dass Lily die Stimme zum Satzende auch dann hob, wenn sie keine Frage stellte. Mit dieser Tonveränderung verstärkte sie den Druck auf mich, möglichst bald zu antworten. Damals fanden wir heraus, dass sie mein Schweigen unangenehm fand und wollte, dass ich rasch weiterredete, damit sie an meiner Stimme merkte, ob ich mit ihr übereinstimmte oder nicht.
Ich sagte Lily, meiner Vermutung nach wolle sie mich aus ähnlichen Gründen zum Lachen bringen. Mein Lachen hieß, dass wir einer Meinung waren – dass wir die Guten und ihre Eltern die Bösen waren. Mein Lachen sprach sie von aller Schuld frei – sie brauchte dann kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie sich über ihre Eltern lustig machte.
Sie erwiderte, es sei tatsächlich eine Erleichterung, wenn ich lachte; darauf verstummte sie. Eine Zeitlang redeten wir beide kein Wort. Ich nahm an, dass Lily auf ihre Armbanduhr geschaut und beschlossen hatte, für heute Schluss zu machen, da uns sowieso nur noch wenige Minuten blieben. Es war, als hätte sie das Zimmer bereits verlassen.
Und dann sagte sie: »Ich musste an meinen Nervenzusammenbruch im Internat denken, daran, wie ich zu Hause angerufen hatte, von einem Münztelefon hinterm Schlafsaal, mitten in der Nacht; Motten umschwirrten die Neonröhre. Ich habe wie ein Schlosshund geheult und gesagt: ›Bitte, darf ich nach Hause kommen, bitte, darf ich?‹, woraufhin die Antwort kam: ›Nein, darfst du nicht.‹ Und obwohl es im Internat immer schlimmer wurde, zwang ich mich zu bleiben. Irgendwas aber war für mich anders geworden. Mein Zusammenbruch hatte wie ein Schmelzofen funktioniert und jeden Glauben an meine Gefühle in mir weggebrannt.«
Während ich ihrer Erinnerung zuhörte, kam mir der Traum wieder in den Sinn: Das Mädchen war in Gefahr, doch schien es niemanden zu kümmern – wo war die Mutter des kleinen Mädchens, wo der Vater?
Sie fuhr fort: »Selbst heute fällt es mir schwer, meinen Gefühlen zu vertrauen. Wenn Sie aber lachen, heißt das, Sie glauben meinen Gefühlen, glauben meiner Realität. Wenn Sie lachen, weiß ich, dass Sie die Dinge genauso sehen wie ich – dass Sie nicht ›Nein‹ gesagt hätten; Sie hätten mich nach Hause kommen lassen.«
Wie man durch Lob Vertrauen verliert
Als ich um die Ecke ins Kindergartenzimmer bog, um meine Tochter abzuholen, hörte ich, wie die Kindergärtnerin sagte: »Du hast aber einen wunderschönen Baum gemalt. Gut gemacht.« Einige Tage später zeigte sie erneut auf ein Bild meiner Tochter und meinte: »Klasse, du bist wirklich eine große Künstlerin!«
Bei beiden Gelegenheiten wurde mir schwer ums Herz. Wie konnte ich der Kindergärtnerin erklären, dass es mir lieber wäre, wenn sie meine Tochter nicht lobte?
Heutzutage überhäufen wir unsere Kinder mit Lob, da man davon ausgeht, dass Lob zu stärkerem Selbstbewusstsein und letztlich zu akademischem Erfolg führt. Neue Forschungsergebnisse deuten jedoch etwas ganz anderes an – im vergangenen Jahrzehnt haben eine Anzahl von Studien zum Selbstwertgefühl gezeigt, dass es einem Kind womöglich überhaupt nicht hilft, wenn man es als »kluges Kind« lobt. Lob könnte sogar schlechtere Leistungen nach sich ziehen. Oft reagiert ein Kind auf Lob nämlich damit, dass es aufhört – warum ein weiteres Bild malen, wenn es »das beste« bereits gemalt hat? Oder es malt dasselbe Bild einfach immer wieder – warum Neues oder auf eine neue Weise malen, wenn man mit der alten Methode Lob erntet?
In einer heute berühmten Studie aus dem Jahr 1998 baten die Psychologen Carol Dweck und Claudia Mueller 128 Kinder, eine Abfolge mathematischer Probleme zu lösen. Nachdem sie die erste Reihe einfacher Aufgaben bewältigt hatten, sprachen die Wissenschaftler
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