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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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Internat – als sie noch Heimweh hatte – gefiel es ihr, dass sie ausgewählt wurde.
    In den folgenden Wochen hatten es einige der älteren Mädchen in ihrem Schlafsaal auf sie abgesehen. Sie stichelten, machten sexuelle Anspielungen und versuchten sie zu überreden, zu einem der älteren Jungen ins Zimmer zu gehen. Lily war vierzehn und hatte noch nie einen Jungen geküsst.
    Eines Abends nahm eines der älteren Mädchen Lily mit auf die Toilette und brachte ihr bei, wie man sich übergibt, indem man sich einen Finger in den Hals steckt. »Ist wie beim Blasen, mach einfach den Mund auf und schieb ihn rein«, sagte das Mädchen.
    Die Zeit im Internat wurde immer unerträglicher. Lily tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie klug war und sich schon durchsetzen würde, dass sie in ein, zwei Jahren einen Freund kennenlernen und sich verlieben, dass sich schon alles finden würde. Aber so war es nicht. Lily aß und schlief schlecht. Sie versäumte zwar nie den Unterricht, wurde aber immer panischer. »Ich war nicht deprimiert, nur lief alles irgendwie ständig schneller ab. Die Welt ging aus den Fugen – ich konnte den Kopf nicht über Wasser halten.«
    »Also sind Sie das Mädchen im Traum«, sagte ich.
    »Aber wenn ich das bin, wie kann ich mich da um Alice kümmern?«
    »Vielleicht geht es in diesem Traum genau darum.«
    Lily gab zu, dass es ihr bei den Eltern tatsächlich schwergefallen war, auf Alice aufzupassen. Während ihrer Zeit dort wurde sie wieder zum Kind, fühlte sich weniger erwachsen, immer weniger wie die Mutter, die sie war. »Wissen Sie, ich habe mich wie eine jener Entführten gefühlt, die anfangen, die Welt draußen zu vergessen und wie ihre Entführer zu denken. Das Stockholm-Syndrom.«
    Mir fiel auf, dass Lily den Besuch bei den Eltern in eine Art Comicserie verwandelte. Bei jeder Wendung ihrer Geschichte, bei der ich damit rechnete, sie würde gleich sagen, wie verletzt sie sich fühlte, wie wütend sie war, kam sie mit einer punchline , einer Pointe – als ob ich Flöhe hätte; glaubt sie, ich hätte den Röntgenblick ?
    Durchs offene Fenster hörte man auf dem Bürgersteig Kinder lärmen, die auf dem Weg zum nahen Spielplatz lauthals kreischten und lachten. Während Lily und ich darauf warteten, dass die Kinder vorübergingen, ertappte ich mich dabei, wie ich über das Wort punchline nachdachte, das doch eigentlich Schlagzeile bedeutet – die Gewalt darin ist so unüberhörbar. Stammte punchline vom Kasperltheater Punch und Judy ? Einige Monate zuvor, kurz vor Weihnachten, hatte eines der großen Geschäfte in der Nähe ein Kasperletheater gemietet, eine Punch and Judy Show . Mit meinen Kindern stand ich da und sah zu: Judy ging aus dem Haus und überließ es Mr Punch, sich um das Baby zu kümmern. Wie immer vergaß der chaotische Mr Punch das Baby, setzte sich drauf, biss es schließlich sogar. Als Judy zurückkam, wurde der Stock vorgeholt, und der Klamauk begann. Ich fror und wollte nach Hause; meine Kinder aber waren völlig gebannt. Wir blieben bis zum Schluss.
    »Eines der Probleme bei Ihren Scherzen besteht darin, dass wir glauben können, wir hätten über das geredet, was Ihnen zu schaffen macht – etwa Ihre Ankunft am Flughafen oder Alices Foto in der Schublade –, und wir haben ja auch darüber geredet, nur haben wir uns eigentlich nicht damit auseinandergesetzt.«
    »Wenn ich darüber nicht lachen könnte, wäre ich die meiste Zeit bloß noch wütend.«
    »Ihre Scherze sind aggressiv, Sie bekommen Ihre Rache, und Sie fühlen sich ein bisschen besser. Der Humor scheint zu wirken: Hinterher tut es nicht mehr so weh. Nur scheinen Sie auch jeden Antrieb verloren zu haben, Ihre Lage besser verstehen zu wollen.«
    »Die Scherze entschärfen meine Wut, sie entschärfen sie allerdings so weit, dass ich mich mit dem Verhalten meiner Eltern abfinde. Ich höre auf, darüber nachzudenken.«
    »Ganz genau«, erwiderte ich.
    Lily schwieg einen Moment und sagte dann, sie wäre sich nicht so sicher. Sie dächte durchaus über die Situation mit ihren Eltern nach – das sei ein Albtraum, nur könne sie nichts daran ändern.
    Das Wort »Albtraum« erinnerte mich an ihren Traum. Ich sagte, ich müsse an die Worte denken, mit denen sie die Erzählung ihres Traums eingeleitet hatte: ›Was geschah, war eigentlich sehr schlimm, nur fand ich es nicht schlimm.‹
    Ich sagte: »Zweck Ihres Traumes könnte es gewesen sein, Ihnen die Gewissheit zu vermitteln, dass Sie einen Albtraum

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