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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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davon erklärt, warum sich eine ziemlich normale Form der zugegebenermaßen recht hässlichen, aber dennoch relativ überschaubaren Aus­schweifungen im letzten Jahr in eine heftige und erbärm­liche Alkoholabhängigkeit verwandelt hat.
    Sie weiß, sie steckt in Schwierigkeiten. Sie hat alles versucht. Nicht nur die Anonymen Alkoholiker, sondern auch Rational Recovery, Tarotkarten, das Enneagramm, Therapien, Heilquellen, Meditation, die Beichte, den Blinden vorzulesen und nur noch Wein zu trinken. Nichts half. Mal hat sie ein paar nüchterne Tage, mal erfreut sie sich ein bis zwei Wochen eines klaren Kopfes, aber letzten Endes schließt sich ihre zitternde Hand dann doch wieder um den Hals einer Flasche. Wenn man Thomasina heute so ansieht, würde man nie darauf kommen, wie sie damals war – dass sie mit sechzehn innerhalb weniger Monate fehlerfrei Französisch gelernt hat, jede Rolle in Shakespeare kannte und Lincolns Gettysburg Address fast komplett rückwärts aufsagen konnte, wobei sie am Schluss in schallendes Gelächter ausbrach. Aber man hat wahrscheinlich kein Problem, sich vorzustellen, dass es sich bei den Beulen in ihrer Hand­tasche um kleine Flaschen Flugzeug-Gin handelt.
    Man steht hilflos daneben; man hat wirklich Angst um sie. Man nimmt eine innere Verzweiflung wahr, etwas, das viel düsterer ist, als man dachte. Am liebsten würde ich mich von Thomasinas unaufhaltsamer, zunehmender Selbstzerstörung abwenden. Doch dann denke ich an Noah und greife nach dem Telefon. Höre mich sagen: Wie geht es dir? Wie geht’s Noah? Was gibt’s Neues?
    Ich bin Noahs Patentante. Im Ernst. Das ist so ein katho­lisches Ding. Als er zwei Monate alt war, stand ich neben Thomasina und Ned vor dem Seitenaltar einer großen Kirche, Noah auf dem Arm. Das Taufbecken war aus kaltem, weißem Marmor. Ein Priester klebte an meiner Seite, dessen Ornat intensiv nach verrottendem, mittelalterlichem, von einer Heißmangel geglättetem Leder roch. Er stellte mir eine Frage: Schwörst du dem Satan ab und allen seinen Werken? Ich blinzelte verdattert. Satan? Aber Ned und Thomasina sahen zu, und ich hielt Noah in den Armen, also dachte ich ernsthaft darüber nach und antwortete: »Falls ich ihn jemals treffen sollte, werde ich wissen, was zu tun ist.«
    Diese Antwort muss wohl gut genug gewesen sein, denn der Priester gab mir das Zeichen, Noah über das Becken zu halten. Er hielt den Becher in seiner Hand schräg, und Wasser floss über Noahs Stirn ins Marmorbecken. Noah verzog sein knitteriges Gesicht, aber weinte nur ein bisschen. Schon als Baby hatte er seine Gefühle im Griff, als wüsste er, dass in der Welt für sie nicht viel Platz sein würde. Zu meiner Über­raschung hatte ich Tränen in den Augen. Ich wollte ihm meinen ganzen Patentanten-Segen zuteilwerden lassen, musste ihm aber nur einen Kuss geben. Ich sah, wie Thomasina und Ned sich die Hände drückten. Wir sahen uns mit einer gewissen schüchternen Nacktheit an, wohl wissend, dass wir über einen perfekten Augenblick in unserem Leben gestolpert waren. Ein Moment so flüchtig wie alle anderen, und schon wieder vorbei.
    *
    Jetzt, bei Taffy’s, einem Restaurant an der Ecke, hat Noah einen Hamburger mit Fritten vor sich und strafft seine Schultern. Er nimmt das Brötchen in die Hand, hebt es zum Mund und beißt einen riesigen Happen ab. Er kaut wie ein Löwe, schlingt es herunter. Als ich ihn gefragt habe, hat er zugegeben, hungrig zu sein. Möglicherweise ist er sogar ausgehungert.
    Es ist jetzt drei Tage her, dass sein Vater ertrunken ist. Ich habe keine Ahnung, wie viel er über den Unfall weiß. Die Geschichte war in den Nachrichten, und das schon ausführlicher als in ­einer bloßen Randnotiz. Ein Foto von Ned, das Gesicht eines ganz nor­malen Typen, es schwebt in einem kleinen Kasten neben dem perfekten Titelbild-Gesicht der Nachrichtensprecherin und wird dann größer, um den ganzen Bildschirm auszufüllen. Als sein Gesicht in dem Kasten war, sah er aus wie ein netter junger Mann, den man von der Highschool kennt und der vergessen hat, sich die Haare zu kämmen. Über den ganzen Bildschirm aufgebläht, konnte man die braunen Verfärbungen seiner Haut sehen, die jahrelang den Elementen ausgesetzt war. Seine tee­grü­nen Augen wirkten blutunterlaufen, skeptisch, mög­licher­weise verlogen. Oder vielleicht sah er nur so aus, weil in den Nachrichten jeder dazu neigt, wie ein Krimineller auszusehen. Auf jeden Fall hätte es sich für Noah vollkommen falsch

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