Die Frau die nie fror
nicht sofort gestorben. Er hat meinen Dad noch durch die halbe Welt gezogen, doch der hat sich mit aller Kraft festgehalten. Der Wal hat die ganze Zeit geblutet, und am Ende ist er dann verblutet, und mein Dad hat ihn zurück zum Schiff geschleppt. Er ist die ganze Nacht auf gewesen und hat ihn in Stücke zerteilt. Ein paar von den Knochen hat er behalten. Siehst du?« Er winkt mit der elfenbeinfarbenen Scheibe. »Ein Walknochen.« Er gibt ihn mir.
Als Baby hatte Noah riesige dunkelblaue Augen. Seine Lippen schürzten sich beim Atmen manchmal zu winzigen Küssen, so als könne er gar nicht anders und müsse die Liebe, die ihn erfüllte, hinaus in die Welt senden. Wir spielten immer ein Spiel: Wir saßen uns gegenüber, er im Hochstuhl, ich auf einem Küchenstuhl. Dann gaben wir uns etwas – eine Gummiente, eine Ninjafigur oder ein anderes kleines Spielzeug – eine lange Zeit immer hin und her, während wir uns anlächelten. Das hier erinnert mich daran. Doch als ich ihm die Scheibe wiedergeben will, schiebt er sie direkt zu mir zurück.
Vielleicht ist der Held, den ich ihm beschrieben habe – der, der den Notruf absetzt –, nicht gut genug. Er braucht einen, der Harpunen schwingt.
Langsam drehe ich den Schatz in meiner Hand, untersuche ihn respektvoll. »Schön, Noah. Wirklich, wunderschön.«
Er nimmt ihn und stopft ihn wieder in seine Jackentasche, schließt sie, knöpft die Lasche zu und sieht sich im Restaurant nach den essenden Menschen um. Plötzlich ist er wieder ein rastloses Kind, gestärkt durch einen Hamburger, mit dem sicheren Gefühl, die Geschichten glauben zu dürfen, die ihn trösten, und die Tatsachen ignorieren zu können, die er nicht versteht. Es ist noch etwas Zeit, bis er Hausaufgaben machen muss, und er sagt: »Hey, Pirio, wenn wir hier fertig sind, können wir dann zu dir gehen und noch ein bisschen Domino spielen?«
Kapitel 2
E s ist Samstagmorgen, eine Woche nach dem Unfall, und ich sitze in einem in Stille getauchtes Fernsehstudio in Brighton. Hinter dem grellen Scheinwerferlicht verbirgt sich ein Livepublikum von über zweihundert Fans des legendären Jared Jehobeth, der mir in einem Klubsessel direkt gegenübersitzt. Er wirkt total entspannt. Scheinbar in Gedanken rückt er seine Krawatte zurecht und ruft seine Showtime-Persönlichkeit ab, wo auch immer er sie abgespeichert hat. Links von mir steht ein winziger Tisch. Ich bemerke das fürsorglich bereitgestellte Glas Wasser, sollte es mir gleich die Kehle zuschnüren.
Ich hätte nie gedacht, jemals an einem solchen Ort zu landen. Ich hasse Fernsehen im Allgemeinen und Frühstücksfernsehen im Besonderen. Als der TV-Produzent anrief und mich als Gast in die Sendung einlud, nachdem er den Artikel über den Unfall im Boston Globe gelesen hatte, habe ich sofort abgelehnt.
Dann dachte ich darüber nach. Niemand hatte sich gemeldet und die Verantwortung für die Kollision übernommen. Je mehr Zeit verging, desto wahrscheinlicher war es, dass der Frachter, der die Molly Jones versenkt hatte, unbehelligt davonkam. Was, wenn das Publikmachen der Geschichte ein Besatzungsmitglied dazu brachte, eine Aussage zu machen oder einen anonymen Hinweis zu geben? Also rief ich den TV-Produzenten zurück.
In diesem Augenblick frage ich mich allerdings, ob das eine kluge Entscheidung war. Ich streiche mir die Haare aus dem Nacken und locker über die Schulter, und schon taucht eine Regieassistentin neben mir auf, sprüht, kämmt und legt mein Haar wieder so, wie es vorher war. Unter den heißen Lampen beginnt das dicke Puder-Make-up, mit dem sie mich eingeschmiert haben, bereits von meinem Gesicht abzurutschen. Ich bin froh, den Rest der Kosmetik-Camouflage, die sie mir aufdrängen wollten, weggelassen zu haben. Ein junger Aufnahmeleiter in T-Shirt und Jeans steht unterhalb der Bühne, hält die Finger hoch und zählt die Sekunden herunter, bis die rote Lampe aufleuchten wird, die signalisiert, dass wir auf Sendung sind.
Jetzt richtet der Aufnahmeleiter seinen Zeigefinger schweigend und übertrieben deutlich auf uns beide auf der Bühne – und am Rande meines Blickfelds leuchtet die rote Lampe auf. Mir wird schwindelig vor Angst. Es ist, als wäre ein Gerüst weggezogen worden. Ich schaue an mir herunter und stelle fest, dass ich tatsächlich Kleidung anhabe – eine rote Seidenbluse, einen kurzen grauen Rock über schwarzen Strumpfhosen und hohe schwarze Stiefel. Zwischenzeitlich ist Jared Jehobeth aufgeleuchtet wie eine
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