Frostbite
1 Der
Boden erbebte. Ein grüner Regen aus Kiefernnadeln
rieselte von den Bäumen. Chey griff nach einer vorstehenden Wurzel, um
das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und hob den Kopf. Eine Wasserwand brauste
in den Hohlweg herein. Geradewegs auf sie zu.
Ihr blieb kaum Zeit, die Flut wahrzunehmen, bevor sie getroffen
wurde – ihr war, als käme ihr plötzlich der aufgewühlte Inhalt eines
Swimmingpools entgegen. Das weiß schäumende Wasser toste, es schlug ihr so hart
ins Gesicht und gegen die Hände, dass es sich wie ein Sturz auf den Bürgersteig
anfühlte. Eisige Flüssigkeit schoss ihr in die Nase, unwillkürlich riss sie den
Mund auf. Dann sprudelte ihr das Wasser in die Kehle und raubte ihr die Luft.
Blätter und Kiefernzapfen trafen sie wie Kugeln aus einer Pistole. Wasser mit
großen und kleinen Steinen, das nach frischem Schlamm stank. Ihre Hand wurde
von der Wurzel weggefegt, die Füße wurden ihr unter dem Leib fortgerissen.
Völlig außer Kontrolle wirbelte sie umher, ohne sich dagegen wehren zu können.
Ihr Rücken wurde schmerzhaft gezerrt, als das Wasser sie in die Höhe stemmte
und wieder nach unten schmetterte, sie hochhob
und hart zu Boden schleuderte. Ihr Fuß schlug gegen einen Stein, den sie
nicht sehen konnte – ringsum gab es nichts mehr außer Wasser. Verzweifelt
kämpfte sie darum, zumindest den Kopf über die Oberfläche zu halten, obwohl die
Strömung sie unaufhaltsam in die Tiefe ziehen wollte. Sie hatte das Gefühl,
unglaublich schnell zu sein, als würde sie wie eine vom Hebel eines Flippers
angetriebene Stahlkugel den Hohlweg hinuntergeschossen. Einen Übelkeit
erregenden Augenblick lang kam ihr die Erkenntnis, dass sie sterben würde,
sollte ihr Kopf mit einem Stein kollidieren. Sie war ganz allein, und niemand
würde ihr zu Hilfe kommen …
Und dann endete alles mit einem
solchen Ruck, dass ihre Knochen krachten. Das Wasser strömte über sie und an
ihr vorbei, sie hörte ein Gurgeln, und dann befand sie sich unter der
Oberfläche und bekam keine Luft mehr. Etwas
hielt sie fest, und sie ertrank. Mit aller verbliebenen Kraft bäumte sie
sich auf und kämpfte gegen den Gegenstand an,
der sie festhielt.Kämpfte darum, den Kopf über Wasser zu bekommen. Nach
Luft ringend durchbrach sie die Oberfläche, und wieder schoss ihr Wasser in die
Kehle. Wild ruderte sie mit den Armen, dann wurde sie erneut untergetaucht.
Irgendwie kämpfte sie sich von Neuem nach oben.
Weiße Gischt sprudelte an Cheys Gesicht vorbei. Sie vermochte kaum
den Mund über den eiskalten Strom halten. Auf der Suche nach dem Ding, das sie
festhielt, tasteten ihre Hände verzweifelt umher, während das Wasser stieg und
Luftblasen in ihren Ohren platzten. Ihre Haut brannte vor Kälte, und sie
wusste, dass sie in wenigen Sekunden tot sein würde, dass sie gescheitert war.
Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Blitzfluten gab es doch
bloß in der Wüste und nicht in den Nordwest-Territorien der kanadischen Arktis.
Hatte sie zumindest geglaubt. Aber der Sommer hatte den Norden erreicht, und
die stärker werdende Sonne hatte Billionen Tonnen Schnee geschmolzen. Und das
Wasser musste schließlich irgendwo bleiben. Chey war den engen Hohlweg
hinaufgestiegen, damit sie sich oben auf dem Kamm orientieren konnte. In dem
schmalen Erdspalt hatte sie dem messerscharfen Wind entkommen wollen. Es war
ein mühsamer Weg gewesen, und sie hatte mit Händen wie mit Füßen klettern
müssen, aber sie war gut vorangekommen. Dann hatte sie innegehalten, weil sie
etwas zu hören glaubte. Ein leises Schwirren,
als würde eine Karibuherde durch den Wald galoppieren. Möglicherweise
handelte es sich auch um ein Erdbeben.
Nun hielt sie etwas fest, und sie konnte sich nicht befreien. Sie
versuchte sich zu orientieren. Die Strömung hatte sie das Stück zurückgespült,
das sie gerade bezwungen hatte, hatte sie über spitze Steine geschleift, die
ihren Parka zerrissen hatten; ihr Gesicht war mit Schlamm beschmiert. Nichts
war zu sehen außer silbrigen Blasen, die
silbrige Oberfläche des Wassers ringsum.
Ihre Hände waren taub, und die Kälte krümmte ihre Finger, als sie
hinter sich griff. Chey flehte ihre Hände an, sich wieder zu bewegen. Sie
ertastete Nylon, fühlte einen Nylonriemen – ihr Rucksack hatte sich an
einem Felsvorsprung verkeilt. Fluchend befreite sie ihn. Sofort packte die
Strömung wieder zu und trug sie weiter nach unten in den Hohlweg hinein. Sie
griff nach dem ersten Schatten, der ihr begegnete und sich als
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