Fluch von Scarborough Fair
Prolog
Am Abend von Lucy Scarboroughs siebtem Geburtstag, nach einer Party, wie sie die Nachbarn nicht mehr erlebt hatten seit– nun ja, seit Lucys sechstem Geburtstag, bekam Lucy ein letztes, unerwartetes Geschenk. Es handelte sich um einen handgeschriebenen Brief ihrer Mutter– ihrer leiblichen Mutter Miranda. Es war kein Geburtstagsbrief im üblichen Sinn, sondern ein Brief aus der Vergangenheit. Miranda hatte ihn vor Lucys Geburt an ihre Tochter geschrieben und ihn in der Hoffnung versteckt, Lucy möge ihn rechtzeitig finden, damit er ihr helfen könnte.
Es sollte jedoch viele Jahre dauern, ehe Lucy das begriff. Es war bezeichnend für Mirandas grausames Schicksal, dass ihre Tochter diesen Brief viel zu früh entdeckte. Mit ihren sieben Jahren wusste Lucy kaum etwas über Miranda und vermisste sie auch nicht, weil sie wundervolle Ersatzeltern hatte. Lucy hatte auch keine Ahnung, dass ihre Mutter früher einmal, vor ihrer Geburt, ein paar Monate in demselben Zimmer geschlafen hatte, das jetzt ihr gehörte.
Als Lucy den Brief fand, konnte sie nicht wissen, von wem er stammte oder dass es sich überhaupt um einen Brief handelte.
Lucy war gerade dabei, das unterste Regal des eingebauten Bücherbords in ihrem Schlafzimmer in Beschlag zu nehmen. Zuvor war es mit Büchern ihrer Pflegemutter vollgestopft gewesen. » Es platzt aus allen Nähten«, hatte Soledad Markowitz festgestellt, und neulich hatte sie zu Lucy gesagt: » Als wir in dieses Haus zogen und dein Schlafzimmer noch ein Gästezimmer war, habe ich alle meine Collegebücher hier untergebracht. Ich bringe sie demnächst nach unten ins Büro, damit du Platz für deine Sachen hast.«
Doch bis jetzt war es bei der Ankündigung geblieben, und deshalb hatte Lucy beschlossen, sich selbst darum zu kümmern. Das ersehnte Geburtstagsgeschenk, einen kleinen schwarzen Pudel, hatte sie zwar nicht bekommen, dafür aber viele Bücher, wie zum Beispiel Harry Potter und der Stein der Weisen und eine Gesamtausgabe der Chroniken von Narnia. Jetzt wollte sie die Bücher ordentlich ins Regal stellen und warten, bis sie alt genug war, um sie selbst lesen zu können.
Nachdem Lucy Soledads Bücher aus dem Regal geräumt hatte, bemerkte sie, dass das unterste Regalbrett nicht fest verschraubt war, sondern ganz herausgehoben werden konnte. Zwischen Regal und Fußboden befand sich ein wenige Zentimeter breiter staubiger, geheimer Spalt.
Als Lucy diesen geheimen Spalt mit siebzehn wiederentdeckte, bemerkte sie etwas, das ihr mit sieben nicht aufgefallen war: Die Nägel, mit denen das Regalbrett ursprünglich befestigt worden war, waren sorgfältig herausgezogen worden. Da erst begriff sie, dass Miranda das getan hatte. Aber als Siebenjährige fand Lucy es nur ungeheuer spannend, ein Geheimfach entdeckt zu haben. Ein richtiges Geheimfach!
Lucy beugte sich nach vorn, um besser hineinsehen zu können, und tastete mit beiden Händen in dem Fach herum. Außer Staub fand sie nur ein Bündel vergilbtes, von Hand beschriebenes Papier.
Sie zog die Blätter hervor und sah sie durch. Sie waren nicht besonders aufregend, obwohl sie an den Rändern ausgefranst waren, als seien sie aus einem Buch herausgerissen worden – was sie irgendwie doch wieder interessant machte. Die Schrift war verblasst und so winzig und gedrängt, dass sie selbst für jemanden, der an Schreibschrift gewöhnt war, nur schwer zu entziffern gewesen wäre.
Für einen Moment war Lucy enttäuscht. Warum hatte der Verfasser den Text nicht in den Computer eingetippt und die Seiten ausgedruckt, wie jeder vernünftige Mensch?
Dann kam ihr ein Gedanke. Vielleicht waren die Blätter wirklich sehr, sehr alt und stammten aus einer Zeit, in der es noch keine Computer gab. Und vielleicht handelte es sich bei den Worten auf dem Papier um Zaubersprüche. Das würde erklären, warum die Seiten versteckt worden waren. Und es würde bedeuten, dass sie in dem Geheimfach einen Schatz entdeckt hatte.
Lucy wünschte sich so sehr, dass es so wäre. Wenn sie tatsächlich ein Geheimfach mit Zaubersprüchen besaß, wusste sie schon, was sie damit anfangen würde.
Sie war ganz aufgeregt.
Lucy durchsuchte den Stapel von Geburtstagsgeschenken, bis sie das Geschenk ihres ältesten Freundes Zach Greenfield fand, der gleich nebenan wohnte. Es war ein Red-Sox-T-Shirt, das er angeblich von seinem eigenen Geld für sie gekauft hatte. Auf der Rückseite stand über der Nummer 8 » Yastrzemski«. Jeder Red-Sox-Fan in Boston kannte den Namen, auch
Weitere Kostenlose Bücher