Die Frau die nie fror
hineingehalten, um sie zu betäuben und die Blutung zu stoppen.« Ich höre mich selbst und bin beeindruckt. Wie kompetent ich klinge!
»Sie müssen gewusst haben, dass selbst eine kurze Zeit im Wasser bei diesen Temperaturen möglicherweise tödlich sein könnte.« Dieser Mann ist genial.
»Darüber habe ich nicht nachgedacht.«
»Aber Sie haben es gewusst.«
»Ja.«
Jared Jehobeth wirft dem Publikum ein breites triumphierendes Grinsen zu. Er wird mich zu einer Heldin machen, und nur darum geht es hier. Ich komme mir wie ein Idiot vor, das nicht vorhergesehen zu haben. Bin aber auch ein wenig beeindruckt. Wenn man sich überlegt, wie einfach man einen Menschen neu erfinden kann, und wie falsch. Ich habe nichts anderes getan, als aus einem todgeweihten Boot zu springen, um mich zu retten. Anschließend ist mein Körper ganz von allein in eine Art Ruhezustand verfallen, medizinisch unerklärlich und bislang nur selten dokumentiert, durch den in meinen lebenswichtigen Organen irgendwie eine untere Temperaturgrenze eingehalten werden konnte, bis die Küstenwache eintraf und mich aus der Suppe fischte. Ich war nur noch ein schlaffer Sack von bläulich aufgedunsenem Fleisch, als sie mich gefunden haben. Nichts, was ich mir als Verdienst anrechnen kann oder anrechnen möchte.
»Um ehrlich zu sein, war ich etwas seekrank. Ich bin kein erfahrener Fischer. Die Nässe und Kälte haben mir überhaupt nicht gefallen.«
Das Publikum lacht freundlich-mitfühlend. Ich bin genau wie sie.
»Ned meinte, ich würde mich irgendwann an das Schlingern gewöhnen, aber es war der Geruch, den ich nicht ausstehen konnte. All dieser Diesel, gemischt mit den Ködern, die im Prinzip nur verfaulte Heringsinnereien sind.«
Das Publikum stöhnt mitleidig.
»Wie auch immer, mir ging es ziemlich dreckig, und der Nebel machte es nur noch schlimmer. Ich habe immer wieder hineingestarrt und versucht, den Horizont zu finden, aber ich konnte kaum den Bug sehen.
Kurz vor der … äh, Kollision war es still – zu still. Ich bemerkte eine riesige schwarze Wand ein paar Meter vor dem Bug, die dort im Nebel irgendwie vor uns lauerte. Zuerst schien sie sich nicht zu bewegen. Dann wurde mir klar, dass sie schnell an Steuerbord vorbeiglitt. Im nächsten Moment krachte der Stahlrumpf eines riesigen Schiffes – so hoch, dass ich den oberen Teil nicht sehen konnte – in das Seitendeck, ungefähr drei Meter von mir entfernt.
Das Deck fing unter meinen Füßen an aufzubrechen. Es gab einen schrecklichen Lärm. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich einen Kopfsprung über die Seite ins Wasser gemacht habe. Ich erinnere mich nicht daran, Angst gehabt zu haben. Ich dachte nur, wie unfair, weil mir doch sowieso schon schlecht war, und nun würde ich auch noch klatschnass.«
»Was haben Sie noch gedacht?«, fragt Jared Jehobeth atemlos.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich. »Ich dachte … Bitte stirb nicht, Ned .«
»Ah«, er lehnt sich zufrieden zurück. »Und was ist dann passiert?«
»Man erleidet einen Schock, wenn man in so kaltes Wasser fällt. Alles an einem steht unter Schock. Dann fühlt man nichts mehr. Eine Weile bin ich unter Wasser geschwommen und war überrascht, dass sich meine Arme und Beine bewegten.«
»Wie war es dort unten?«
Fast lächele ich. Er will einen Reisebericht, als wäre ich gerade zurück von einem exotischen Ort. Vielleicht aus der Welt des kleinen Nemo. Oder vom Planeten des Riesenkraken.
Aber meine Geschichte hat eine eigene Dynamik, da ist keine Zeit für Fragen. »Ich habe nicht nach Luft geschnappt. Meine Atemwege verschlossen sich einfach. Meine Arme und Beine bewegten sich wie verrückt – aber alles passierte instinktiv. Ich bin in der Highschool geschwommen und schwimme immer noch mehrmals pro Woche im YMCA . Das hat mir möglicherweise geholfen – ich weiß nicht. Ich sah ein Leuchten und nahm an, es sei die Oberfläche, also bin ich dorthin. Dann war ich an der Luft, musste würgen und habe versucht, den Kopf über Wasser zu halten. Schließlich habe ich zurückgeschaut.«
»Was haben Sie gesehen?«
Ich schüttele kaum merklich den Kopf. Diesen Teil werde ich nicht erzählen. Es tut viel zu weh. Dennoch sehe ich die Szene ganz deutlich vor mir: Die vordere Hälfte der Molly Jones rollt wie ein Kopf, abgetrennt durch eine Guillotine, von dem riesengroßen Schiff fort, neigt sich, verharrt kurz, verschwindet dann schneller unter den Wellen, als ich es für möglich gehalten hätte,
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