Die Frau im Fahrstuhl
bekommen kann?«
»Natürlich«, erwiderte Schwester Ellen.
Wir gaben ihm eine Tasse, aber er blieb in der Tür stehen. Unentschlossen wippte er auf seinen karierten Filzpantoffeln. Es schien, als ob er etwas ganz anderes wollte.
»Darf ich meinen Kaffee vielleicht bei Ihnen trinken?«, fragte er vorsichtig.
Sein Blick war so flehend, dass Schwester Ellen ihm das gestattete, obwohl es eigentlich gegen die Regeln verstieß.
Der Patient setzte sich. Geistesabwesend rührte er in seiner Tasse, den Blick auf das Dunkel der Nacht jenseits des Fensters gerichtet. Ein feiner Nieselregen prasselte gegen das Fenster.
»Ich muss mit Ihnen reden. Es war so merkwürdig gestern, als… das passierte«, sagte er schließlich.
»Wir sind mit unserer Arbeit fertig, und die anderen Patienten schlafen. Wir haben Zeit zum Zuhören. Erzählen Sie ruhig«, meinte Schwester Ellen.
Der Mann lächelte sie dankbar an.
»Ich lag im Bett und las, weil ich nicht schlafen konnte. Der Ausschlag juckte so. Vielleicht hatte ich auch leichtes Fieber… Ich weiß es nicht. Kurz gesagt ging es mir nicht gut. Aber das Buch war wahnsinnig spannend, und ich war ganz darin vertieft, als mir plötzlich bewusst wurde, dass jemand im Zimmer stand. Ich schaute auf und sah eine Frau nur etwa einen Meter von meinem Bett entfernt. Sie war grün gekleidet und trug eine Brille. Sie war… fein angezogen, fand ich.«
»War sie rothaarig?«, unterbrach ihn Marianne.
Der Mann nickte.
»Schönes dunkelrotes Haar. Pagenkopf«, sagte er. »Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu reden. Plötzlich lag so etwas wie dunkler Nebel im Zimmer. Um mich herum wurde es immer dunkler, aber die ganze Zeit hörte ich ihre beruhigende Stimme und bekam es wohl nie mit der Angst zu tun. Die Frau sprach in der Dunkelheit zu mir.«
Er verstummte und sah uns verlegen an. Wir hörten aufmerksam zu, und niemand schien an seinen Worten zu zweifeln.
»Ehe ich bewusstlos wurde, sah ich noch, wie sie die Hand ausstreckte und den Alarmknopf drückte. Seltsamerweise erinnere ich mich ganz deutlich, dass sie schwarze Handschuhe trug und dass eine schwarze Handtasche von ihrem Handgelenk baumelte. Dann erinnere ich mich an nichts mehr, bis ich wieder erwachte und Sie alle sich an mir zu schaffen machten.«
In der Küche wurde es ganz still, als er seine Geschichte beendet hatte. Schwester Ellen gewann als Erste die Fassung wieder. Mit so viel Autorität und Ruhe, wie sie aufbringen konnte, sagte sie: »Sicher hatten Sie Fieberträume, bevor Sie in Ohnmacht fielen. Die Halluzination lässt sich durch Sauerstoffmangel erklären.«
Ich ertappte mich dabei, dass ich zustimmend nickte. Schließlich konnten wir dem Mann nicht von der Frau im Fahrstuhl erzählen! Es war besser, ihm einzureden, er habe an einer Fieberfantasie gelitten.
Als er in sein Zimmer zurückgekehrt war, einigten wir uns darauf, nie wieder zu versuchen, den Fahrstuhl anzuhalten. Die Frau sollte ihre Ausflüge bei Vollmond nach Belieben fortsetzen können.
Und das tat sie dann auch.
Die Erbin des Wirtshauses
Ende der dreißiger Jahre trat meine Großmutter auf dem Jahrmarkt als Zigeunerin namens Madame Roza auf. Akuter Geldmangel zwang sie dazu. Sie war Witwe geworden und hatte zwei kleine Kinder. Sie konnte aus der Hand lesen. Offenbar war sie sehr talentiert, denn die Leute drängten sich in ihrem Zelt. Im Laufe der Zeit gelangte sie mit ihrer Wahrsagerei zu relativem Wohlstand und wurde Teilhaberin einer Bonbonfabrik, die erkleckliche Gewinne abwarf. Am besten verkauften sich »Rozas Ingwerpastillen gegen Heiserkeit und Erkältung«. In den frühen siebziger Jahren verkaufte Großmutter ihren Anteil an der Fabrik und zog sich in ihrem zentral in Umeå gelegenen Haus aufs Altenteil zurück.
Von Letzterem erzählt meine Mutter mit Vorliebe. Davon, dass Großmutter früher Weissagerin war und sich als Zigeunerin ausgab, will sie jedoch nichts wissen.
»Alles üble Nachrede. Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte!«, faucht meine Mutter immer dann, wenn die Rede darauf kommt, und presst die Lippen zusammen. Sie hat’s gerne ein wenig vornehm.
Größere Sensibilität für die Geisterwelt hat sie nie an den Tag gelegt. Dafür ist sie viel zu erdverbunden. Bei näherem Nachdenken würde sie sich allerdings eingestehen müssen, dass Großmutters Vermögen, das Mutters Bruder und sie freudig in Reisen, große Autos und Häuser umgesetzt haben, aus dem Jahrmarktszelt stammt, in dem Roza aus der Hand gelesen
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