Die Frau im Fahrstuhl
Arbeit hatte sie sie mit einer Spange zusammengebunden. Ausnahmsweise bewies die sonst immer sehr direkte Professorin Takt und sagte nicht, was sie von der kurzen Pagenfrisur hielt.
Hillevi sah müde und etwas verquollen aus. Das ließ sich natürlich durch die lange Reise, die Zeitverschiebung und die Trauer über den Tod der Schwester erklären. Yvonne Stridner wusste, was für eine enge Beziehung die beiden gehabt hatten. Der Blick von Hillevi hatte jedoch auch etwas Abwesendes. Als hätte sie nicht die Kraft, sich dem Hier und Jetzt zu stellen. Yvonne Stridner musste ihre Fragen nach der Arbeit im St. Mary’s Hospital mehrmals wiederholen. Wie es sei, im Dschungel zu leben. Hillevis einsilbigen Antworten entnahm sie, dass es vielleicht doch nicht ganz so primitiv war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Obwohl Armut und Not der Kinder, Kriegsopfern, zum Himmel schrien.
Sie aßen vor dem offenen Kamin in einem Zimmer, das Yvonne Stridner wegen der Zitronen- und Orangenbäume in großen Terrakottatöpfen Orangerie nannte. Sie freute sich, dass sie sogar Früchte trugen. Das Zimmer hatte auf drei Seiten Glaswände und Aussicht über den Hjuviken. Das Haus lag auf einer Anhöhe, und die Aussicht war hinreißend.
Kochen war ein großes Hobby der Professorin. Da ihr klar geworden war, dass sich Hillevi nach typisch schwedischen Gerichten sehnen würde, hatte sie das zubereitet, was ihr von der Hausmannskost am besten schmeckte: gekochten Heilbutt mit frischem Meerrettich, zerlassener Butter und jungen Kartoffeln von der Bjärehalbinsel. Letztere kosteten im Mai noch ein Vermögen, aber sie wollte etwas ganz Besonderes auftischen, da sie sich ein Jahr lang nicht gesehen hatten. Der zarte Spargel der Vorspeise hatte wunderbar geschmeckt. Zum Essen servierte sie einen leichten Chardonnay. Absichtlich schenkte sie Hillevi dauernd nach, damit diese sich entspannen würde, aber die Freundin schien sich nicht für den Wein zu interessieren. Sie aß und trank nur wenig.
Statt eines Desserts tranken sie Kaffee und aßen erlesene Schokoladenpralinen. Bei ihrer letzten Reise hatte Yvonne in einem Taxfreeshop eine große Schachtel davon erstanden. Ohne zu fragen, stellte sie große, gefüllte Cognacschwenker neben die Tassen.
»Trink! Du kannst es brauchen«, meinte Yvonne.
Sie hob ihr Glas und nickte ihrer Besucherin zu, die zögernd zu dem ihren griff. Vorsichtig probierte Hillevi den aromatischen Inhalt und stellte den Cognacschwenker dann rasch wieder ab.
Yvonne beobachtete sie über den Rand ihres Glases hinweg und atmete das volle Bouquet ihres Lieblingscognacs ein. Dann fand sie, es sei an der Zeit, die ernsteren Dinge anzusprechen.
»Kannst du über das, was passiert ist, sprechen?«, begann sie.
Hillevi nickte.
»Willst du im Dschungel bleiben?«
Hillevi schwieg eine Weile, ehe sie antwortete.
»Ja. Noch mindestens zwei Jahre. Wahrscheinlich länger. Jetzt habe ich hier schließlich niemanden mehr… außer dir und meinen anderen Freunden. Aber niemanden…«
Sie brach mitten im Satz ab. Yvonne nickte als Zeichen, dass sie sie verstanden hatte. Erst waren ihre Eltern gestorben, dann Per-Erik und jetzt Evalis.
»Wann fährst du zurück?«
»In einer Woche.«
»Kanntest du deinen Schwager überhaupt?«
»Nein. Wir haben nur einmal miteinander gesprochen und zwar nach Evilis’ Tod. Ich rief ihn an, um den Termin der Beerdigung zu erfragen. Schließlich musste ich mir frei nehmen, um hierher fahren zu können.«
Yvonne trank einen kleinen Schluck Cognac und überlegte, wie sie weiterfragen sollte.
Sie entschloss sich, direkt zu sein.
»Wie du weißt, habe ich sowohl Evalis als auch deinen Schwager obduziert… Lars hieß er, glaube ich.«
Hillevi nickte erneut.
»Dabei kamen einige unerfreuliche Dinge ans Licht. Wusstest du nicht, dass er Evalis misshandelt hat?«
»Nein. Davon hat sie mir nichts erzählt.«
Zum ersten Mal, seit sie gekommen war, schien Hillevi auf der Hut zu sein. Yvonne merkte es ihrer Stimme an.
»Am sonderbarsten ist jedoch der Selbstmord deines Schwagers.«
»Ach?«
»Er hat eine Mischung aller Tabletten aus dem Badezimmerschrank geschluckt. Offensichtlich hatte er sie in Wein aufgelöst. Seltsamerweise handelt es sich in Kombination mit der großen Menge Alkohol um die ideale Mischung, um eine Atemlähmung herbeizuführen.«
Hillevi zog erstaunt die Brauen hoch.
Yvonne setzte erneut an.
»Am meisten erstaunt mich, dass er wusste, wie wichtig Antiemetika sind. Schließlich
Weitere Kostenlose Bücher