Die Frau in Schwarz
Geschichte erzählen!« Mit diesen Worten drehte ich mich um und verließ rasch das Zimmer und schließlich das Haus.
Etwa fünfzehn Minuten später kam ich wieder zu mir und fand mich mit hämmerndem Herzen und fast atemlos auf dem Brachland hinter dem Obstgarten wieder. In meiner ungeheuren Erregung war ich einfach blindlings losgelaufen. Nun versuchte ich erst einmal, mich zu beruhigen, und setzte mich auf einen moosgepolsterten alten Stein. Ich begann, tief und gleichmäßig zu atmen, bis sich meine innere Anspannung löste, mein Pulsschlag regelmäßiger und mein Kopf klarer wurde. Nach einer kurzen Weile nahm ich meine Umgebung wieder wahr und bemerkte, wie weit der Himmel mittlerweile war, wie die Sterne funkelten, wie schneidend die Luft wehte und wie schön das Gras zu meinen Füßen im Tau glitzerte.
Meine Familie musste verwirrt und bestürzt sein, denn sie kannte mich als ausgeglichenen Mann, den nichts schnell aus der Ruhe brachte. Sie fragten sich sicherlich, warum ich wegen ein paar lächerlicher Geschichten so ausfallend reagierte. Wie sollten sie mein Benehmen auch verstehen können! Ich musste rasch zu ihnen zurück und versuchen, mein unhöfliches Verhalten wieder gutzumachen, den Vorfall irgendwie abzutun und dafür zu sorgen, dass die ausgelassene Stimmung zurückkehrte. Was ich nicht konnte, war, ihnen den Grund für mein Benehmen zu erklären. Nein, doch ich würde fröhlich sein und ruhig, um meiner lieben Ehefrau willen. Aber nicht mehr.
Sie hatten mich einen Spielverderber genannt, hatten versucht, mich dazu zu bringen, die eine Geistergeschichte zu erzählen, die ich doch gewiss, wie jeder Mensch, kannte. Damit hatten sie recht. Ja, ich kannte eine Geschichte, eine wahre Geschichte über Spuk und das Böse, über Angst und Verwirrung, über Grauen und Tragödie. Aber es war keine Geschichte, die man gleichmütig zur Unterhaltung in der Weihnachtszeit am Kamin erzählte …
Insgeheim hatte ich immer gewusst, dass ich dieses Erlebnis nie würde vergessen können, dass es stets mit meinem Ich verwoben und untrennbarer Teil meiner Vergangenheit sein würde. Aber ich hatte gehofft, dass ich mich zumindest nie mehr bewusst daran erinnern müsste. Wie eine alte Narbe machte es sich hin und wieder bemerkbar, aber immer weniger schmerzhaft und immer seltener, und im Lauf der Zeit fand ich mein inneres Gleichgewicht, meine seelische Gesundheit wieder und sogar ein neues Glück. In letzter Zeit war es nicht viel mehr als das leichte Kräuseln der Oberfläche eines Teichs gewesen – nur noch der Hauch einer Erinnerung. Heute Nacht jedoch verdrängte es alles andere. Ich wusste, dass ich keine Ruhe mehr haben würde, dass ich, in kalten Schweiß gebadet, wach liegen und jene Zeit, jene Ereignisse, jene Orte in Gedanken aufs Neue erleben würde.
Ich stand auf und lief weiter durch den Garten. Morgen war Weihnachten. Konnte ich denn nicht wenigstens in dieser gesegneten Zeit davon frei sein? Gab es keine Möglichkeit, die Erinnerung und die Wirkung, die sie auf mich hatte, in Schach zu halten, so wie ein Schmerzmittel oder eine Wundsalbe körperliche Leiden zumindest zeitweise vergessen lassen kann? Und dann, während ich so zwischen den im Mondlicht silbergrau schimmernden Obstbäumen stand, überlegte ich, wie man einen alten Geist vertreibt, der nicht zu spuken aufhört. Durch Exorzismus. Nun gut, dann sollte auch meiner exorziert werden, indem ich meine Geschichte erzählte, nicht laut am Kamin, nicht zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib – nein, dazu war sie zu ernst und zu real. Ich würde sie niederschreiben, mit aller Sorgfalt und in jeder Einzelheit. Ich würde meine eigene Geistergeschichte schreiben. Vielleicht würde ich mich so befreien können und endlich genießen, was immer das Leben noch für mich bereithielt.
Mir war von Anfang an klar, dass niemand außer mir die Geschichte je zu Gesicht bekommen sollte – zumindest nicht solange ich lebte. Ich war es, der unter dem Spuk gelitten hatte, wenngleich ich nicht der Einzige gewesen war, o nein, aber sicherlich der Einzige, der noch am Leben war. Und meine Erregung und Qual an diesem Abend verrieten, dass mich das Ganze immer noch zutiefst verschreckte und deshalb auch ich allein es war, der eines Exorzismus bedurfte.
Ich blickte zum Mond und dem hellen Polarstern auf. Heiligabend. Dann betete ich, ein von Herzen kommendes, schlichtes Gebet um meinen Seelenfrieden und um die Kraft und Ausdauer, während dieser bestimmt
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