Die Frau in Schwarz
schlimmsten Aufgabe meines Lebens durchzuhalten. Ich bat um Segen für meine Familie und um eine friedliche Nachtruhe für uns alle. Denn obwohl ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, graute mir vor den noch bevorstehenden Stunden der Dunkelheit.
Die Antwort auf mein Gebet war die Erinnerung an ein paar Zeilen eines Gedichts, an Zeilen, die ich einst auswendig gelernt, aber inzwischen längst vergessen hatte. Später zitierte ich sie vor Esmé, und sie erkannte sie.
Es heißt, wenn das heilige Fest wiederkehrt,
Wenn wir die Geburt unseres Erlösers feiern,
Werden die Vögel singen die ganze Nacht.
Und es heißt, dass kein Geist sich unter die Lebenden wagt,
Dass die Nächte und Sterne nur Frieden bergen,
Dass den Feen und Hexen alle Macht genommen,
So voll Wunder und Gnade ist diese Zeit.
Und während ich diese Zeilen laut sprach, erfüllte mich langsam ein tiefer Friede. Ich war wieder ganz ich, aber gestärkt durch meinen Vorsatz. Nach den Feiertagen, wenn die Familie abgereist und ich wieder mit Esmé allein wäre, würde ich anfangen, meine Geschichte aufzuschreiben.
Als ich ins Haus zurückkehrte, hatten Isobel und Aubrey sich nach oben begeben, um, ihre Freude teilend, mit prall gefüllten Strümpfen für ihre kleinen Söhne herumzuschleichen. Edmund las, Oliver und Will waren im alten Spielzimmer ganz hinten im Haus, wo ein etwas mitgenommener Billardtisch stand, und Esmé räumte vor dem Schlafengehen das Wohnzimmer auf.
Über den Zwischenfall an diesem Abend wurde nicht ein Wort verloren, allerdings wirkte Esmé besorgt, und ich erfand als Ausrede für mein eigenartiges Benehmen eine Magenverstimmung. Dann kümmerte ich mich ums Feuer, klopfte meine Pfeife an der Kamineinfassung aus, und gewann meine Weihnachtsstimmung zurück. Ich dachte nicht mehr daran, welch einsames Grauen in den späten Stunden dieser Nacht vielleicht auf mich wartete. Morgen war Weihnachten, und ich freute mich darauf. Es würde eine schöne Zeit im Kreis der Familie sein, voller Frohsinn, Liebe und Freundschaft, Spaß und Lachen.
Und wenn die Feiertage vorbei waren, hatte ich zu tun.
Londoner Nebel
E s war ein Montagnachmittag im November, und es wurde bereits dunkel, nicht, weil es schon so spät war – es ging auf fünfzehn Uhr zu –, sondern aufgrund des Nebels, eine waschechte Londoner Suppe, die bereits seit dem Morgengrauen von allen Seiten auf uns zuschwappte – falls es überhaupt ein Morgengrauen gegeben hatte, denn der Nebel hatte das Tageslicht erfolgreich zurückgehalten.
Der Nebel hing über dem Fluss, kroch durch Gassen und Gänge, wirbelte in dicken Schwaden zwischen den kahlen Bäumen der Parks und Gärten der Stadt. Aber auch in den Häusern blieb man nicht völlig von ihm verschont. Er wand sich durch Spalten und Ritzen wie schlechter Atem, stahl sich jedes Mal, wenn eine Tür geöffnet wurde, hinein. Es war ein gelblicher, schmutziger, übelriechender Nebel, ein Nebel, der einen würgte und die Sicht raubte und schmierige Spuren hinterließ. Die Menschen tasteten sich blind durch die Straßen, stolperten die Bürgersteige entlang. Der Nebel dämpfte Geräusche und ließ Formen verschwimmen. Vor drei Tagen hatte er die Stadt erobert und dachte offenbar nicht an Rückzug. Und wie alle diese Nebel war er bedrohlich und unheimlich, er verschleierte die gewohnte Welt, so dass die Menschen jegliche Orientierung verloren, als wären sie bei einem Blindekuh-Spiel mit verbundenen Augen ein paarmal um sich selbst gedreht worden. Alles in allem war es ein trostloses Wetter, das noch mehr auf die ohnehin schon gedrückte Stimmung in diesem grauesten Monat des Jahres schlug.
Rückblickend wäre es einfach zu behaupten, dass mich an jenem Tag eine ungute Ahnung wegen meiner bevorstehenden Reise quälte, dass ein sechster Sinn, eine telepathische Intuition, wie sie in den meisten Menschen ungeahnt schlummert, in mir erwacht war. Aber ich war in jenen Tagen meiner Jugend ein robuster, ganz auf dem Boden der Tatsachen stehender junger Mann gewesen und hatte keinerlei beklemmende Vorahnung verspürt. Dass mein gewohnter Frohsinn ein wenig gedämpft war, lag ausschließlich am Nebel und am November, und wie mir erging es so gut wie allen Londonern.
Soweit ich es wahrheitsgetreu berichten kann, empfand ich nichts weiter als Neugier, ein berufliches Interesse an dem bisschen, in das Mr. Bentley mich eingeweiht hatte – und eine gewisse Erleichterung über die Aussicht, der ungesunden Atmosphäre
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