Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Teil eins
Drei Tage zuvor – Freitag
Keisha
Die Sozialarbeiterin ging Keisha mordsmäßig auf den Senkel. Wie sie schon dasaß, unfassbar dröge, in dieser scheußlichen Strickjacke und mit ihrem kurzen grauen Haar und der Brille mit Kordel, wie so ’ne richtige Oma, verdammt noch mal. Am schlimmsten aber war die Art, wie sie redete, so supersanft, als hätte sie einen Kurs mitgemacht, wie man mit geistig Behinderten umgeht.
Keisha hing zusammengesunken auf ihrem Plastikstuhl, und als sie mit ihren Dunlop-Sneakers über den Boden quietschte, warf ihre Mum ihr einen Blick zu. Die nickte natürlich bei allem, was Sandra sagte, als wäre es das Wort Gottes. Ja, Keisha, du bist tatsächlich zu labil, als dass dein eigenes Kind bei dir leben könnte, und das, obwohl du eine Wohnung, einen Job und einen Mann hast. Was wollten die denn sonst noch, verdammt noch mal?
»Ich kapier’s einfach nicht«, sagte sie und verschränkte die Arme in ihrer neuen Jeansjacke – ein Geschenk von ihm , mit dem er irgendeinen Scheiß, den er gebaut hatte, wiedergutmachen wollte. »Ich hab doch alles getan, was Sie von mir verlangt haben, oder? Ich hab ihr ein richtiges Kinderzimmer eingerichtet, mit Bett und Schrank und allem Drum und Dran. Alles mit rosa Rüschen, gottverdammt.«
Keishas Mum funkelte sie an. »Hüte deine Worte«, murmelte sie, und ihre Stimme klang auch nach dreißig Jahren in England hundertpro nach Kingston. »Manieren wie ein Bauarbeiter.«
Sandra blickte zwischen ihnen beiden hin und her und konnte wahrscheinlich gar nicht genug kriegen von diesem deftigen ungelösten Konflikt , wie sie es nennen würde. Wenn sie auf so was stand, sollte sie doch bei irgendeiner Nachmittags-Talkshow anheuern.
»Der Punkt ist, Keisha«, sagte Sandra und legte behutsam ihren Stift beiseite. »Der Punkt ist, dass wir immer noch ein wenig besorgt sind wegen der Beziehung, in der Sie sind.«
»Er ist ihr Vater, verdammt noch mal!«
»Gewöhn dir vor dieser Dame mal andere Umgangsformen an!«, raunzte ihre Mutter. Wäre Keisha nur ein paar Jahre jünger gewesen, hätte Mercy ihr jetzt eine Ohrfeige verpasst.
»Das ist schon in Ordnung, Mercy«, sagte Sandra ernst. »Mir ist bewusst, dass es schwierig für Keisha sein muss, wenn Christopher, wie sie sagt, Rubys Vater ist. Aber nach dem, was passiert ist, müssen Sie verstehen, dass er sich ändern muss. Und dann ist er in der ganzen Zeit auch noch kein einziges Mal zu mir gekommen.«
»Er ist sehr beschäftigt.« Sie hatte ihn angefleht mitzukommen, aber es hatte nichts genützt. Er hockte lieber zu Hause rum, in Unterhose und Arsenal-Trikot, und spielte Xbox, »Zeit für mich selbst haben« nannte er das. Während sie zu diesem deprimierenden Drecksloch latschen musste, wo es roch wie in ihrer alten Schule, die gleichen hallenden Korridore, und Sandra mit ihr redete, als wäre sie plemplem.
Ihre Mutter nickte wieder zu jedem Wort, die fleischigen Arme über dem mächtigen Vorbau verschränkt. »Der Junge ist ein Nichtsnutz. Das einzig Gute, was er je zustande gebracht hat, war, dieses Kind zu zeugen.«
Keisha sank noch tiefer in ihren Stuhl. Es war nicht fair, dass ihr diese beiden alten Jungfern verklickern wollten, dass sie den Mann verlassen sollte, den sie liebte – ihren Mann. Wo doch jeder wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass sie auch nur in Chris Deans Nähe sein durfte. Die kapierten doch überhaupt nichts.
»Also gut, Keisha«, sagte Sandra und blinzelte hektisch. »Wir schauen mal, ob Christopher das nächste Mal mitkommt. Bis dahin sind mir leider die Hände gebunden. Er muss glaubhaft machen, dass er das, was er getan hat, nicht noch einmal tun wird.«
»Das wird er nicht.« Er hatte es ihr versprochen, nachdem sie ihn angeschrien hatte. Sie hatte ihm sogar einen Schlag verpasst. Jetzt, Monate später, wusste sie nicht mehr, wie sie das fertiggebracht hatte – und warum er nicht härter zurückgeschlagen hatte.
»Ich begleite Sie noch hinaus.« Sandra stand schnaufend auf. Sie war zwar nicht ganz so dick wie Mercy, hatte aber ein wabbelndes Doppelkinn. Ekelhaft.
In dem schäbigen Wartezimmer, das aus schmutzigen Fenstern und verbogenen Plastiksitzen bestand, spielte Ruby. Sie hatte ein Malbuch und eine abgenutzte alte Barbiepuppe dabei, die Mercy in einem Ein-Pfund-Shop für sie gekauft hatte. Es war nicht mal eine richtige Barbie, nur eine weiße Plastikpuppe mit blonder Mähne. Sie sah Ruby mit ihrem zu Zöpfchen geflochtenen Kraushaar
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