Die Frau mit dem Muttermal - Roman
den Deckel ab, warf ihn in den Papierkorb und trank direkt aus der Flasche. Einen halben Liter Cognac. Vier Sterne. Ein billigerer hätte es auch getan, aber das Geld hatte gerade noch gereicht. Für einen Vier-Sterne-Cognac. Der allerletzte Luxus, wie gesagt.
Noch zwei Stunden Spielraum, sie hatte es genau ausgerechnet. Von dem Augenblick an, als sie den Polizeiwagen auf der Straße traf. Wie effektiv sie auch arbeiteten – und bis jetzt hatten sie kaum derartige Tendenzen gezeigt –, vor zwölf Uhr konnten sie sie unmöglich aufgespürt haben. Erst der Tatort selbst – das Chaos im Wirtshaus –, danach mussten sie Jelena Walgens ausfindig machen, worauf ein verwirrtes Gespräch mit ihr folgen würde und die Fahrt zurück nach Wahrhejm – wobei sie überzeugt davon war, dass der Hauptkommissar kaum etwas einem anderen überlassen würde. Und schließlich der Anruf hier auf dem Schiff … nein, weniger als zwei Stunden wäre einfach undenkbar.
Halb zwölf, um ganz sicherzugehen. Neunzig Minuten in einer eigenen Kabine auf dem B-Deck, das musste reichen. Sie hatte ein ganz sonderbares Gefühl der Zufriedenheit, dass sie schließlich auch ihr eigenes Ende plante und nicht nur das der anderen. Sie kippte die Tasche auf dem Boden aus. Sie konnte sich ebenso gut gleich bereit machen, falls irgendwas nicht klappte. Sie suchte das Ende der Metallkette, schob gleichzeitig ihren Pullover hoch und entblößte ihren Oberkörper.
Trank noch einen Schluck Cognac. Zündete sich eine Zigarette an, während sie langsam den geschmeidigen Stahl sich um den Leib wickelte. Ruhig und methodisch, Schicht um Schicht, genau wie damals, als sie geübt hatte.
Schwer, aber geschmeidig. Sie hatte mit Sorgfalt ausgewählt. Sieben Meter lang und achtzehn Kilo schwer. Eine Stahlkette. Kalt und schwer. Nach der letzten Runde zog sie sie noch ein wenig fester und verschloss die Kette dann mit einem Vorhängeschloss. Stellte sich hin und probierte das Gewicht und ihre Bewegungsmöglichkeiten.
Doch, die Überlegungen stimmten.
Schwer genug, um sie nach unten zu ziehen. Aber nicht zu schwer. Sie musste sich ja auch noch bewegen können. Über die Reling.
Noch eine Zigarette.
Mehr Cognac.
Ein warmer, endgültiger Rausch breitete sich bereits in ihrem Körper aus, sie lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Hörte oder fühlte die Vibrationen der schweren Schiffsmotoren, die sich auf ihren Schädelknochen wie ein ferner, bedeutungsloser Kontaktversuch fortpflanzten. Sonst nichts. Schnaps und Zigaretten. Und die Vibrationen.
Noch eine Stunde, dachte sie. In einer Stunde ist es vorbei. Nur noch eine Stunde.
Der Wind packte sie und warf sie fast auf den Rücken. Einen Augenblick lang hatte sie Angst, doch falsch gerechnet zu haben, aber dann bekam sie das Geländer zu fassen und fand die Balance wieder. Sie richtete sich auf und schob die Tür zu. Es war stockfinster, und der Wind toste. Langsam zog sie sich, direkt im Wind, den schmalen, feuchten Gang an der Längsseite des Schiffes entlang.
Nach vorn. Das Geländer war nicht höher als Brusthöhe und hatte außerdem noch querlaufende Rippen, auf die man
klettern konnte. Ideal, mehr oder weniger, was auch immer der Grund dafür sein mochte. Sie musste nur noch die richtige Stelle aussuchen. Ein Stück weiter kam sie zu einer Treppe, zu der eine Kette den Weg versperrte, ein Schild schaukelte und klirrte im Wind und verkündete wahrscheinlich, dass hier der Zutritt für Passagiere verboten sei.
Sie schaute sich um. Es war niemand zu sehen. Der Himmel war dunkel und unruhig mit einigen helleren Streifen. Das Meer schwarz. Als sie sich vorbeugte, konnte sie es mit knapper Not sehen.
Dunkelheit. Überall nur Dunkelheit.
Das dumpfe Vibrieren des Schiffes. Windböen mit salzigem Schaum. Wellen, die von rotierenden Schrauben hochgeworfen wurden.
Allein. Kalt trotz des Cognacs.
Kein anderer Passagier wagte sich zu dieser Zeit an Deck. Nicht bei diesem Wetter. Sie blieben alle drinnen. In einer der Bars. In dem weinroten Restaurant. In der Diskothek oder in ihren warmen Kabinen.
Drinnen.
Sie kletterte hoch. Blieb einige Sekunden sitzen, bis sie sich mit aller Kraft mit den Beinen abstieß und vornüber fiel.
Sie traf, wie ein Fötus zusammengekauert, auf die Wasseroberfläche, und die aufkommende Angst, von der Schiffsschraube angesogen zu werden, verließ sie sofort, als sie schnell – sehr viel schneller, als sie sich vorgestellt hatte – in die Tiefe
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