Die Frau mit dem Muttermal - Roman
I
23. Dezember – 14. Januar
1
Sie fror.
Der Tag hatte zwar ganz vielversprechend mit sanftem Schneefall begonnen, aber seit der Mittagszeit hatte der starke Wind vom Meer den Niederschlag in einen peitschenden Regen verwandelt. Er ging durch Mark und Bein, ließ die Ladenbesitzer unten im Hafen eine Stunde früher als üblich schließen, und in Zimmermanns Kneipe wurden dreimal so viele Grogs serviert wie an einem normalen Dezembertag.
Der Friedhof lag obendrein nach Südwesten hin. An einem leicht hügeligen, baumlosen Abhang, Wind und Wetter vollkommen ausgeliefert. Als die kleine Gruppe endlich das frisch ausgehobene, lehmige Grab erreichte, gingen der Frau sonderbare Gedanken durch den Kopf.
Dort unten war es jedenfalls windgeschützt. Zumindest konnten einem im Grab der Wind und der verfluchte Regen nichts mehr anhaben. Alles hatte seine guten Seiten.
Der Pfarrer näselte, und der Totengräber – oder wie sollte sie ihn sonst nennen – kämpfte mit dem Regenschirm. Er versuchte, damit den Schwarzrock und sich selbst zu schützen, aber die Böen waren launisch und wechselten die Richtung von einer Sekunde zur anderen. Die Träger drückten ihre Absätze in den weichen Lehm und setzten den Sarg ab. Ihr Blumenstrauß auf dem Deckel sah schon jetzt demoliert aus. Wie ein Bund Suppengrün, das zu lange gekocht worden war. Einer der Männer schwankte, fand die Balance aber wieder.
Der Pfarrer putzte sich die Nase und sang ein Kirchenlied. Der Totengräber fummelte mit der Schaufel. Der Regen wurde stärker.
Das war typisch. Sie konnte nicht anders, sie musste immerzu daran denken, während sie die Hände in den Manteltaschen ballte und versuchte, etwas Wärme in die Füße zu trampeln.
Es war ja so typisch. Diese Zeremonie war genauso missglückt und unwürdig wie das ganze Leben ihrer Mutter. Nicht einmal eine anständige Beerdigung war ihr also vergönnt. Am Tag vor Heiligabend. Ein bisschen blauer Himmel oder leichter Schneefall? War das zu viel verlangt?
Natürlich war es das. Das Leben ihrer Mutter war gesäumt von Niederlagen und hinterhältigen Unglücken; genau genommen war das hier passend und gleichzeitig zu erwarten gewesen, und sie merkte plötzlich, wie sie sich auf die Lippen beißen musste, um nicht loszuheulen.
Sie durfte nicht weinen. Jedenfalls noch nicht. Aus irgendeinem merkwürdigen, unerklärbaren Grund hatte ihre Mutter gerade das von ihr gefordert. Weine nicht! Mach, was du willst, aber steh bei meiner Beerdigung nicht heulend am Grab. Tränen haben noch nie geholfen, glaube mir, ich habe Sintfluten im Laufe meines Lebens vergossen. Nein, handle, meine Tochter! Tu etwas richtig Großartiges, so dass ich von da oben im Himmel applaudieren kann.
Während sie das sagte, hatte ihre Mutter ihre Hand zwischen ihren beiden rissigen und kraftlosen Händen gehalten. Sie hatte ihre gebrochenen Augen in die der Tochter gebohrt, und dadurch hatte diese begriffen, dass es der Mutter dieses Mal wirklich ernst war. Dieses eine Mal hatte die Mutter wirklich etwas von ihr gefordert. Sie war natürlich sehr spät damit herausgerückt, und es war unklar formuliert, aber worum es ging, daran bestand kein Zweifel. Oder doch?
Eine halbe Stunde später war sie tot.
Tu etwas, meine Tochter! Handle!
Der Pfarrer verstummte. Er schaute sie unter dem tropfenden Regenschirm an, und sie begriff, dass sie irgendetwas tun sollte. Aber was? Sie hatte keine Ahnung. Schließlich war es erst das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie auf einer Beerdigung war; und beim letzten Mal war sie acht oder neun Jahre alt gewesen, und ihre Mutter hatte sie dorthin mitgenommen. Vorsichtig trat sie ein paar Schritte vor. Blieb in sicherem Abstand stehen, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, auch noch ins Grab zu rutschen. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Faltete die Hände vor sich.
Zum Teufel, jetzt denken die sicher, dass ich bete, dachte sie. Oder dass ich jedenfalls so tue als ob. Hallo, Mama! Du kannst dich auf mich verlassen. Ich weiß, was ich zu tun habe. Dir werden die Handflächen da oben bei den Engeln noch heiß werden.
Und dann war es vorbei. Der Pfarrer und der Totengräber gaben ihr beide ihre kalte, weiche Hand, und zehn Minuten später stand sie unter dem undichten Dach der Bushaltestelle und sehnte sich nach einem heißen Bad und einem großen Glas Rotwein. Oder Cognac. Oder beides.
Eine Trauernde, dachte sie. Zur Beerdigung meiner Mutter ist nur ein einziger Mensch gekommen. Das war
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