Die Frau mit dem roten Tuch
Zurückweisung meiner neuen Überzeugung leben. Du warst es, der keinen Spielraum hatte. Du hast keine Toleranz gezeigt. Keine Gnade. Das hat so wehgetan, dass ich mich eines Tages in den Nachmittagszug nach Bergen setzen musste …
Und nun kommt nach mehr als dreißig Jahren ein neues Kapitel zu der Geschichte hinzu. Du trittst mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf die Veranda, und plötzlich entdeckst du mich. Für eine Sekunde habe ich das Gefühl, mich mit deinen Augen zu sehen, und mich überkommt ein beunruhigendes Gefühl.
Bitte folge mir jetzt bei einem letzten gedanklichen Experiment. Das ist wirklich wichtig für mich, denn dieses gedankliche Experiment ist zugleich Ausdruck eines bohrenden Zweifels, der mich in letzter Zeit überkommen hat. Doch, Steinn, auch ich kann zweifeln.
Stell dir noch einmal vor, wie wir damals durchs Gebirge gefahren sind, und versuch dir auch vorzustellen, wir hätten eine Filmkamera auf die Motorhaube montiert gehabt. Wenn diese Kamera nun unmittelbar vor dem Augenblick des Zusammenstoßes die Straße gefilmt hätte – könntest du dann heute sicher sein, dass die Frau mit dem roten Tuch sich auf Zelluloid hätte bannen lassen?
Du findest sicher, dass ich mich seltsam ausdrücke. Aber ich schreibe ja auch über etwas ausgesprochen Seltsames.
Das, was wir die Preiselbeerfrau genannt haben, war eine Offenbarung aus dem Jenseitigen, da bin ich mir sicher. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie hätten filmen oder fotografieren können. Oder ihre Stimme auf Tonband aufnehmen. Sie war ein Geist, der zwei lebende Menschen aus Fleisch und Blut aufsuchte. Deshalb ist es auch nicht richtig zu sagen, sie habe sich »materialisiert«. Hinzu kommt, dass wir nicht dasselbe gehört haben. Sie kam mit einem Gedanken für dich und einem für mich. Es waren ganz unterschiedliche Sätze, die wir hörten, auch wenn ihre Botschaft ungefähr dieselbe war.
Aus der einschlägigen Literatur glaube ich recht gut über Menschen Bescheid zu wissen, die ähnliche Erlebnisse hatten wie wir. Lass mich nur einen wichtigen Punkt betonen: Die Geister sind natürlich nicht an Zeit und Raum unseres vierdimensionalen, um nicht zu sagen kleinkarierten Daseins gebunden. Was sollte sie wohl binden? Und so ist es auch nicht sicher, ob die Preiselbeerfrau wirklich schon hinübergegangenwar, oder ob es ihr erst noch bevorsteht, ich meine, von uns aus gesehen, aus unserer fleischlichen Ecke des Mysteriums. Sie kann ein Vorspuk gewesen sein, und es wäre möglich, dass sie noch unter uns weilt.
Aber wir haben sie doch angefahren, denkst du jetzt sicher. Und habe ich nicht die ganze Zeit darauf bestanden, dass sie am Tag des Unfalls oder in der darauffolgenden Woche gestorben ist? Das habe ich, Steinn, aber genau das ist mir in letzter Zeit fragwürdig geworden. Genau da setzt mein kleiner Zweifel ein. Vielleicht haben wir am Eldrevatn auch einen Hinweis auf etwas erlebt, das erst noch geschehen wird , ich meine, etwas, das noch nicht geschehen ist .
Aber der Scheinwerfer war doch zerbrochen, nicht wahr? Und auch der Ruck an den Sicherheitsgurten war zu spüren. Doch, das war er, wenn auch nicht allzu sehr, und etwas hat uns gestreift, da will ich keine Zweifel säen, obwohl das, was uns berührt hat, auch ein Hauch von Geist gewesen sein kann.
Wie du weißt, war ich schon damals überrascht, wie gering der Schaden an unserem Wagen war. Du konntest einfach weiterfahren. Hättest du das gekonnt, wenn du zum Beispiel ein Rentier oder einen Elch angefahren hättest?
Wenig später sind wir freilich umgekehrt und haben das Tuch gefunden. Das war so, und jetzt mache ich es wie du und sage, dass es sehr lange her ist und ich es so genau nicht mehr weiß. Ich weiß nur mit Bestimmtheit, dass die Polizei uns versichert hat, es habe an der Stelle keinen Unfall gegeben.
Nur um sicherzugehen, dass wir wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, deute ich zum Schluss die Alternative an, dass die Preiselbeerfrau sich uns nicht weniger als drei Mal offenbart hat. Erst auf dem Weg neben der Straße oben in Hemsedal, dann beim Eldrevatn, und zum drittenMal im Birkenwäldchen auf dem Berg hinter dem alten Hotel. Was glaubst du, Steinn?
Seitdem hat sie sich nicht mehr gezeigt, dir nicht und mir nicht. Es waren so unbedingt wir zwei, zu denen sie gekommen ist. Andere Zeugen, die sie gesehen haben, gibt es vielleicht nicht.
Jetzt hoffe ich, was ich geschrieben habe, ist nicht zu viel für dich. Ich habe ein
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