Die Frau mit dem roten Tuch
wütend auf uns gewesen sein, dass sie bestimmt vom nächsten Haus aus die Polizei angerufen und erzählt hätte, dass ein roter VW mit Skiern auf dem Dach sie fast überfahren hatte.
Du hast mir zugehört und das Lenkrad fester gehalten als auf der Hinfahrt, aber deine Antwort war ein Kopfschütteln. Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht zur Polizei gehen, hast du mir erklärt. Denn was hatte sie da oben mitten in der Nacht überhaupt zu suchen? Man bricht um diese Tageszeit nicht zu einer Bergwanderung auf, und man will viele Kilometer von der nächsten menschlichen Behausung entfernt auch nicht nur ein bisschen frische Luft schnappen. Man kann natürlich auch nachts durchs Gebirge wandern, denn um die Jahreszeit wird es ja nicht richtig dunkel und nachts auch noch nicht so schrecklich kalt, aber das tut man nur, weil es sein muss, also weil man einen ganz bestimmten Zweck verfolgt. Oder weil man auf der Flucht ist oder vor irgendetwas davonläuft.
Ich habe mir alles angehört, und wir gingen versuchsweise von deinen Prämissen aus. Ich sagte: Und wovor zum Beispiel läuft man davon?
Du bist minutenlang weitergefahren, ohne zu antworten. Wir redeten jetzt auf eine neue und fremde Weise miteinander. Wir waren kein Liebespaar mehr. Wir plapperten undwir lachten nicht mehr. Aber wir waren freundlich und rücksichtsvoll, wie gesagt. Wir wollten füreinander nur das Allerbeste, wir brachten nur für uns zusammen nicht mehr das Beste zustande.
Vor wem oder was läuft man davon?, habe ich noch einmal gefragt.
Vor dem Fahrer des LKW auf dem Parkplatz, war deine Antwort. Irgendetwas ist dort passiert, und sie ist davongelaufen. Vielleicht hat sie sich dort ausgekannt. Gerade den Pass kann man zu Fuß passieren, die beiden Täler im Osten und im Westen schließen dicht aneinander an, liegen sozusagen Rücken an Rücken. Nur das Eldrevatn trennt die beiden dunklen Täler.
Du hast mich angeschaut, als wolltest du für deine Theorie um Beistand bitten. Vielleicht hatte die Frau auch selbst ein Verbrechen begangen, hast du überlegt, vielleicht einen brutalen Mord, einen Mord an einem Mann, der sie viele Jahre lang misshandelt hatte und jetzt tot im Führerhaus eines im Ausland zugelassenen LKW lag. In so einer Lage rennt man nicht zur Polizei, nur weil man sich über einen verrückten Autofahrer ärgert.
Ich war so beeindruckt von deiner Fantasie, dass ich die Hand vor den Mund schlug, damit du nicht merkst, dass ich lache. Aber du hast es bemerkt und gesagt: Vergiss es! Sie hat den LKW gefahren. Es hat ja niemand im Führerhaus gesessen, als wir vorbeifuhren. Wir haben nur ein paar Minuten später die Fahrerin neben der Straße gesehen, es war kühl, und sie hatte sich ein Tuch um die Schultern gelegt. Sie hat sich von uns weggedreht, denn sie wollte nicht erkannt werden. Und zwar, weil sie dort oben mit dem Fahrer eines weißen Lieferwagens verabredet war. Sie wollten sich bei der Wasserscheide treffen, und es sollte etwas Wertvolles übergeben werden, ein paar Kilo weißes Pulver vielleicht,oder auch nur ein Bündel Scheine. Vielleicht wurde auch ein Bündel Scheine gegen weißes Pulver getauscht, warum nicht? Vielleicht sollte etwas Größeres von einem Flugzeug abgeworfen werden? Auch dann geht man nicht ohne Not zu in der Gegend ansässigen Bauern oder zur Polizei. Trotzdem wäre es verständlich, dass jemand, der von einem Auto umgemäht wurde, auf Rache sinnt. Und wenn jemand schon in der Gegend unterwegs ist, kann er natürlich den auffälligen roten Käfer beim Anleger in Hella stehen sehen. Wir waren also zum Gletscher gefahren, könnte sie sich gedacht haben, wir wollten uns dort verstecken, es gab nur leider keine Straßenverbindung dorthin, schon gar nicht für LKW. Trotzdem kam sie hinter uns her. Um uns zu bestrafen. Um uns erst einmal einen Streich zu spielen. Obwohl Streich vielleicht das falsche Wort ist. Jedenfalls gibt es viele Möglichkeiten, ein Menschenleben zu erschüttern. Mit ein bisschen Fantasie kann man andere auf vielerlei Weise bestrafen. So hast du geredet. Interessant übrigens, dass du neulich in deiner Mail etwas Ähnliches erwähnt hast. Ich meine die Geschichte von dem Mann in dem arabischen Land, der mit seinen Zauberkünsten angeblich ein Ehepaar auseinanderbringen wollte …
Freilich: Als du damals von einem Streich gesprochen hast, konnte ich nicht länger verhehlen, dass ich deine Fantastereien schon wieder witzig fand. Ich habe dir eine Hand auf den Oberschenkel gelegt, und
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