Die Frau mit dem roten Tuch
musste wieder herkommen. Ich war rechtzeitig zum Abendessen hier, aber nach dem Essen bin ich sofort aufs Zimmer und habe deine letzte Mail geöffnet. Es war erst eine halbe Stunde her, dass du sie geschickt hattest. Ich hatte den Rest einer Karaffe Wein mit hochgebracht, die Karaffe steht jetzt leer vor mir auf dem Tisch.
Ich bin allein gekommen. Diesmal bist du nicht auch hier, meine ich. Obwohl ich an der Mautschranke plötzlich die Vorstellung hatte, dass du vielleicht später am Abend auftauchen würdest. Ich stellte mir vor, dass wir in den alten Sesseln im Kaminzimmer sitzen würden, mit einem Schnaps zum Kaffee. Stattdessen ist es das erste Mal geworden, dass ich allein hier bin. Vielleicht sollte ich auch das üben, denn ich habe diesen Ort lieb gewonnen, das Dorf am Fjord, meine ich, und das alte Hotel.
Es war außerdem das erste Mal seit dem roten VW, dass ich im eigenen Wagen durchs Gebirge gefahren bin. Es war ein eigenartiges Gefühl, denn in gewisser Weise war ich fast mein ganzes Leben lang in diesem Gebirge unterwegs. Tag und Nacht habe ich dort oben beim Eldrevatn hinter dem Lenkrad gesessen. Bevor wir beim Fähranleger von Revsnes geparkt und uns im Weltraum herumgetrieben haben. Bevor wir in Leikanger von der Polizei angehalten wurden. Damals war ich mir ganz sicher gewesen, dass der Fahrer des weißen Lieferwagens den roten VW gesehen und die Polizei informiert hatte.
Über Nuancen in deiner Darstellung ließe sich sicher streiten, aber im Großen und Ganzen schließe ich mich deiner Darstellung an. Sie ist authentisch, und du arbeitest die Feinheiten in unseren unterschiedlichen Deutungen dessen, was wir damals erlebt und beobachtet haben, sehr gut heraus.
Auf dem ganzen Weg von Oslo nach Gol und durch Hemsedal saß ich in meinem neuen Hybridauto und dachte an dich und dein spiritualistisches Weltbild. Mir ging auf, wie klar und konsequent deine Lebenssicht aufgebaut ist. Es gibt nicht den Hauch eines wissenschaftlichen Belegs dafür, nimm mir die Bemerkung bitte nicht übel. Aber ich sehe zugleich ganz klar, dass die Naturwissenschaft den Glauben, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat, auch niemals wird widerlegen können. Ist unser Bewusstsein nur ein Produkt der Chemie des Gehirns plus Milieu und Stimulation, wobei ich zum Bewusstsein auch rechne, was wir das Gedächtnis nennen, oder sind wir, wofür du so überzeugend argumentierst, mehr oder weniger souveräne Seelen oder Geister, die das Gehirn nur als Bindeglied zwischen einer geistigen Dimension und der materiellen Welt des Hier und Jetzt benutzen? Das ist ein altes Problem, und ich glaube, wir werden es niemals vollständig lösen können. Der spiritualistische Blick auf den Status und die Ontologie des Menschen ist vielleicht eine viel zu wunderbare Vision, als dass wir sie jemals wirklich über Bord werfen könnten. Wahrscheinlich wird es immer einen Diskurs darüber geben.
Wir sind Geister, Steinn! …
Es gibt keinen Tod, und es gibt keine Toten …
Ich selbst kann an etwas so Wunderbares nicht glauben. Aber wenn die Dinge so nicht sind, dann sollten sie vielleicht so sein. Wir sind das Bewusstsein dieser Welt. Wir könnten sogar die edelsten und zauberhaftesten Geschöpfe im ganzen Universum sein, das wissen wir nicht. Darum brauchen wir uns auch nicht dafür zu entschuldigen, dass wir hoffnungsvolle Träume von einem anderen Schicksal hegen als dem, das uns als Wesen von Fleisch und Blut auferlegt ist.
Außerdem stelle ich voller Zufriedenheit fest, dass du in deinem Dualismus unser diesseitiges Dasein eben nicht entwertest. Stell dir vor, du hättest geschrieben, unsere Umarmungen damals hätten auf einem Missverständnis beruht! Die Geschichte kennt genug Beispiele dafür, wie religiöse Schwärmerei zu einer Verleugnung alles Sinnlichen und Diesseitigen führen kann, zur Verleugnung dessen, was die meisten von uns für die einzige wahre Wirklichkeit halten.
Diese Gedanken gingen mir auf dem Weg von Oslo hierher unablässig im Kopf herum. Ganz oben in Hemsedal bog ich in den Waldweg links von der Straße und fuhr erst nach einigen Minuten des Nachdenkens weiter.
Dann habe ich das Felsplateau erreicht, auf dem ich seit über dreißig Jahren immer wieder im selben fahlen Dämmerlicht unterwegs bin. Wie ein zweiter Fliegender Holländer war ich dazu verdammt, dort oben umzugehen, wenn nicht jeden Tag, so doch jede Nacht.
Du erinnerst dich an diesen witzigen Hügel, wir sahen ihn, kurz bevor wir
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