Die Frau mit dem roten Tuch
ihren Vorstellungen in Ruhe zu lassen. Sie war ein Licht, sie war ein Feuer, und sie hatte etwas beinahe Hellseherisches.
Was, wenn Steinn recht hatte?
In ihrem Blick war Panik, als sie das sagte. Ich blickte in untröstliche Trauer, tiefe Aufruhr und unerträgliche Verzweiflung. Dann war sie wieder fort, ehe sie ein allerletztes Mal zurückkehrte. Da aber schaute sie mich nur leer und hilflos an. Es gab nichts mehr zu sagen. Vielleicht hätte sie noch die Kraft gehabt, Lebewohl zu sagen, aber das tat sie nicht.
Sie hatte den Glauben verloren, Steinn. Sie war erschöpft in jeder Hinsicht. Sie war öde und leer.
Was hat sie damit gemeint, dass Sie vielleicht recht gehabt haben? Ist das so wahnsinnig wichtig? Recht zu haben , meine ich? Oder die Fähigkeit oder den Willen zu haben, im Glauben anderer Menschen einen dermaßen bohrenden Zweifel zu säen? Wie ich schon sagte, ich wünsche keine Antwort. Die Zeit der Gedenkfeiern ist zu Ende.
Ich weiß nicht, warum, aber ich werde den Gedanken nicht los, dass Sie in Solruns und mein Leben getreten sind wie eine griesgrämige Gestalt aus einem Ibsen-Stück. Ein Mann vom Meer gewissermaßen. Oder haben Sie eher als ein Gregers Werle Einzug gehalten? Wenn ja, übernehme ich gern die Rolle des Relling. Ich sitze in ihrem in goldenes Licht getauchten Mansardenzimmer und schaue hinaus auf die Stadt.
Solrun hatte erwähnt, dass sie vielleicht noch einmal nach Ytre Sula hinausfahren wolle, um sich für den Winter vom Meer zu verabschieden. Es war wenig typisch für sie, solche Ausflüge allein zu planen. Aber vielleicht wolltet ihr euch auch zu zweit vom Meer verabschieden? Wo ihr an dem Julitag doch auch so plötzlich ins Gebirge verschwunden seid?
Ich weiß nicht einmal, warum ich das frage, denn ich will ja keine Antwort, und es spielt auch keine Rolle mehr.
Dann sind Sie tatsächlich nach Bergen gekommen, Wertester! Aber Sie kamen zu spät. Am Nachmittag, als alles vorüber war, haben Sie hier angerufen. Ingrid war am Telefon, aber sie sagte nur, sie wisse nicht, wer Sie seien, und dass sie nicht mit Ihnen sprechen könne. Ich saß über den Esstisch gebeugt und sagte zu Ingrid, ich wisse es wohl, könne aber auch nicht mit Ihnen sprechen. Am Ende nahm Jonas den Hörer und teilte Ihnen mit, was geschehen war. Ich ließ ihn gewähren.
Und was haben Sie dann gemacht? Sind Sie bis zur Beerdigung in Bergen geblieben? Oder sind Sie hinausgefahren, um sich das Meer anzusehen?
Alles rhetorische Fragen.
Ich verbitte mir von jetzt an jeglichen weiteren Kontakt und hoffe auf Ihren Respekt für diese Entscheidung. Für lange Zeit werden die Kinder und ich genug damit zu tun haben, füreinander da zu sein.
Es ist leer ohne sie hier oben in Skansen. Auch westlich der Berge gab es Menschen, denen Solrun wichtig war. Und auch wenn ich die Rolle des Relling auf mich genommen habe, werde ich an Solrun niemals als an einen Durchschnittsmenschen denken.
Das wäre alles.
Niels Petter
Jostein Gaarder
Jostein Gaarder, 1952 in Norwegen geboren, studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaften. Er war lange Philosophielehrer und lebt heute als freier Schriftsteller in Oslo. 1993 erschien bei Hanser der Weltbestseller Sofies Welt.
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1952 geboren in Oslo
bis 1976 Studium der Nordistik, Ideengeschichte und Religionsgeschichte an der Universität Oslo
1978-1986 Lehrer der Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft an Volkshochschulen, Religionslehrer am Gymnasium daneben hielt er Vorlesungen an der Universität Oslo und Bergen
1982 Prosadebut mit der Novelle „Katalog“
1982 - 1984 Mitautor von Veröffentlichung über Religion und Ethik
seit 1986 Autor von Romanen und Erzählungen für Erwachsene und Kinder
Jostein Gaarder lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau, einer Theaterwissenschaftlerin, und zwei Söhnen in Oslo.
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag Kinder- und Jugendbuch sind erschienen
1993 Sofies Welt. Aus den Norwegischen von Gabriele Haefs
1995 Das Kartengeheimnis. Aus den Norwegischen von Gabriele Haefs
1996 Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort. Aus den Norwegischen von Gabriele Haefs
1997 Das Leben ist kurz - Vita Brevis. Aus den Norwegischen von Gabriele Haefs
1998 Das Weihnachtsgeheimnis. Aus den Norwegischen von Gabriele Haefs
1999 Hallo, ist da jemand? Aus den Norwegischen von Gabriele Haefs
2000 Maya oder das Wunder des
Weitere Kostenlose Bücher