Die Frau mit dem roten Tuch
von euch, sollte ich vielleicht sagen, den Unzertrennlichen vom Anfang der siebziger Jahre. Wenn ich schreibe, ich hätte von euch gehört, ist das genau genommen eine böse Untertreibung. Mir war es mehr als genug.
Dass ich Ihnen diesen Memorystick sende und einige Zeilen dazu schreibe, können Sie vor allem als Erfüllung einer Pflicht betrachten. Damit will ich sagen, dass ich glaube, es ihrem Andenken schuldig zu sein. Ich habe das Gefühl, ein Testament zu vollstrecken, denn die Signale, die Sie einander gesendet haben, gehen mich nichts an. Ich habe keine Ahnung, worüber Sie geschrieben haben, aber ich wusste, dass Sie geschrieben haben, das allerdings. Bei Solrun hat es niemals etwas Verdecktes gegeben.
Und ich habe mich gefragt: Wie würde die Welt aussehen, wenn Sie einander dort in dem Hotel nicht wieder über den Weg gelaufen wären? Wäre sie dann noch am Leben? Es ist meine unangenehme Pflicht, diese Frage zu stellen. Sie selbst kann es ja nicht mehr tun. Es ist außerdem schwer, an einer so großen Frage allein zu tragen.
Als wir mit Tanten und Onkeln, Neffen und Nichten von der Hoffnungskapelle in Møllendal zur Gedenkfeier im Hotel Terminus gingen, habe ich Ihnen versprochen, mich irgendwann bei Ihnen zu melden und Ihnen ein wenig mehr darüber zu erzählen, was passiert ist. Ich dachte außerdem an denStick, der Ihnen gehört. Haben Sie nicht begriffen, dass mir das alles ein wenig peinlich war, den Kindern, ja, der ganzen Familie gegenüber? Wer waren Sie denn überhaupt?
Ich bin von ihr zurückgelassen worden, diese Rolle muss ich ausfüllen, und ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich nach dieser Mitteilung hier keinen weiteren Kontakt mit Ihnen wünsche.
Ich habe sie an diesem letzten Samstag noch einmal voller Kraft und Leben gesehen. Ich fand, sie hatte an dem Vormittag, bevor unsere Wege sich trennten, eine ganz besondere Glut. Sie hatte erzählt, dass Sie auf dem Weg nach Bergen waren. War sie deshalb so aufgeregt? Ich beschloss, nicht zu engstirnig zu sein, und schlug vor, Sie zu uns nach Hause einzuladen, aber das wies sie zurück. Kommt nicht in Frage, sagte sie, und damit wollte sie mich schonen. Glaube ich jedenfalls, oder glaubte ich, als sie es sagte. Aber das ist noch nicht alles.
An einem Dezembertag vor vielen Jahren, zehn vielleicht oder fünfzehn, habe ich Solrun ein schönes Tuch geschenkt, es war ein Adventsgeschenk, denn zusammen mit dem Tuch hatte ich einen Christstern gekauft. Ich erinnere mich sehr gut daran, denn Tuch und Christstern hatten dieselbe rote Farbe. Ich hatte den Christstern zuerst gekauft und dann erst in einem Schaufenster im Kaufhaus Sundt das dazu passende Tuch entdeckt.
Sie hat dieses Tuch nie getragen. Sie war schon verlegen, als sie es auspackte. Ich fragte, was denn los sei, und ich glaube, sie sagte etwas wie, dass sie sich damit alt fühle. Doch dann sagte sie auch, es erinnere sie an etwas Geheimnisvolles, dass sie einmal zusammen mit Ihnen erlebt hätte. Ich erwähne das nur, weil sie das wieder erwähnt hat, als wir jetzt im Juli von Fjaerland zurückkamen. Es war, als wir am Jølstravatnet entlangfuhren. Ich machte eine kurze Bemerkung über das Wetter,es war den ganzen Tag neblig gewesen, aber jetzt klärte der Nebel sich auf – und sie redete plötzlich über dieses Tuch, über den Christstern und irgendetwas »Geheimnisvolles«, das vor mehr als dreißig Jahren geschehen war. Aber sie verriet nicht, worum es sich dabei gehandelt hatte, und ich hörte nur zu und fragte nicht. Sie hatte schon früher über solche Dinge gesprochen. Sie hatte schon früher über »Steinn« gesprochen. Oh ja, das hatte sie. Ich schlug also vor, einen Abstecher zum Sommerhaus auf Ytre Sula zu machen, um die alten Erinnerungen, um nicht zu sagen die Gespenster der Vergangenheit, loszuwerden. Vielleicht ließen sie sich ja vom Inselwind verwehen. Sie nahm meine Hand und fand auch, dass uns das guttun würde.
Damit wäre auch das berichtet, oder vielleicht sollte ich sagen, weitergereicht. Wie gesagt, ich trage nur ihretwegen dazu bei, dass Sie über alle Aspekte des Dramas im Bilde sind.
Machen Sie sich nur klar, dass ich Sie nicht um Antwort bitte. Ich tue nur, wozu jeder Ehegatte verpflichtet ist. Ich ordne ihren Nachlass.
An dem Vormittag, an dem wir sie verloren haben, hatte sie aus welchem Grund auch immer dieses alte Tuch hervorgeholt. Ich habe es erst bemerkt, als wir aus dem Krankenhaus zurück waren, da fand ich es auf ihrem
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