Rivalen der Liebe
Kapitel 1
London 1823
Der Hintereingang des Theaters in der Drury Lane war kaum der richtige Ort für Damen. Aber Julianna, ihres Zeichens Lady Somerset, hatte schon oft genug gelitten wegen dem, was anständige Frauen taten oder eben nicht taten. Sie rückte den kurzen Schleier zurecht, der ihr Gesicht knapp bedeckte, und trat in den Schatten. Dabei hielt sie auf der Suche nach dem nächsten Skandal die Augen offen.
Sie hatte gesehen, wie der als Lebemann verschriene Lord Roxbury genau aus diesem Hintereingang das Gebäude verließ. Ohne lange nachzudenken, folgte sie ihm. Ihrer Erfahrung nach war es die größte Torheit, sich auf einen Mann zu verlassen. Nur auf Lord Roxbury konnte sie mit Sicherheit zählen – er provozierte treffsicher einen Skandal nach dem anderen. Für Klatschkolumnisten war er ein Geschenk des Himmels.
Es wurde zwar allgemein vermutet, dass Julianna die berüchtigte »Lady mit Klasse« sei, die Verfasserin der Kolumne »Geheimnisse der Gesellschaft« der beliebtesten Zeitung der Stadt, nämlich der London Weekly – das zu beweisen war allerdings noch niemandem gelungen. Weil dem aber tatsächlich so war, war Julianna ständig auf der Suche nach den neusten Gerüchten.
In ihrer Eigenschaft als »Lady mit Klasse« blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als Lord Roxbury zu folgen, wenn er sich durch den Hintereingang eines Theaters davonmachte.
Auf der Drury Lane blickte sie sich suchend nach einem hochgewachsenen Mann um, der sich mit enormem Selbstbewusstsein und dem ihm eigenen strahlenden Charme bewegte. Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihn erspäht. Seine Haare waren schwarz und etwas zerzaust, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Das traf vermutlich sogar zu. So manche Frau war wegen seiner Augen in Verzückung geraten, wusste Julianna – konnte diese Begeisterung aber nicht teilen: Ihrer Meinung nach waren sie einfach nur braun. Auch Lord Roxburys Mund war ein Objekt der Begierde. Es verzehrten sich nicht nur diejenigen Frauen nach ihm, die diesen berüchtigten, herrlichen Lebemann schon geküsst hatten, sondern auch all jene, die noch darauf brannten.
Julianna Somerset zählte nicht zu den Legionen von Ladys, die seinetwegen in Verzückung gerieten. Ihr Herz und ihr Körper gehörten keinem Mann – nicht, nachdem sie eine Ehe überlebt hatte, die zwar als Liebesheirat begonnen hatte, dann aber schrecklich schiefgegangen war. Wie Roxbury und seinesgleichen war der verstorbene Lord Somerset ein Charmeur gewesen. Ein Verführer. Ein Mann, der viele Leidenschaften pflegte. Vor allem aber war er ein Herzensbrecher gewesen.
Julianna hatte einmal erleben dürfen, wie wahre Liebe sich anfühlte. Der Nachgeschmack war eindeutig bitter.
Aber das lag inzwischen weit zurück. Julianna musste längst nicht mehr jeden Abend daheim sitzen und sich fragen, wo ihr Ehemann steckte oder mit wem er gerade zusammen war. Oder warum ihre Liebe so schnell erkaltet war. Jetzt interessierte sie sich für die Angelegenheiten anderer Leute – zum Beispiel für Lord Roxburys nächtliche Flucht aus dem Hinterausgang des Theaters in der Drury Lane. Ein Mann wie Roxbury konnte einfach nichts Gutes im Schilde führen!
»Ah, da bist du ja!«
Julianna drehte sich um. Hinter ihr war Alistair Grey aufgetaucht, der sie an diesem Abend begleitet hatte. Er schrieb Theaterkritiken für die Zeitung, und sie gingen oft gemeinsam zu den Vorstellungen. Heute Abend hatten sie She Would And She Would Not gesehen, mit ihrer Freundin, der berühmten Schauspielerin »Mrs.« Jocelyn Kemble, in der Hauptrolle.
»Und? Hast du schon jemanden in einer kompromittierenden Situation ertappt?«, fragte Alistair mit gedämpfter Stimme und hakte sich bei ihr unter.
»Heute Abend hat sich leider so ziemlich jeder von seiner besten Seite gezeigt«, beklagte Julianna sich leise. »Aber ich könnte schwören, dass ich gerade gesehen habe, wie Roxbury dort hinüberlief.«
»Ich kann nicht glauben, dass du bei diesen Lichtverhältnissen und mit diesem Schleier überhaupt etwas siehst«, sagte Alistair.
»Da täuschst du dich, mein Lieber – ich sehe viel. Bestimmte Dinge kann man nämlich gar nicht übersehen«, erwiderte Julianna. Sie war eine begabte Lauscherin und hatte ein Auge für kompromittierende Situationen und alkoholselige Eskapaden. Gedämpftes Licht und ein schwarzer Netzschleier behinderten keines ihrer Talente.
»Hier unten ist alles verlassen, Julianna. Lass uns wieder zu den Garderoben gehen, wo
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