Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Gesellschaft gibt es zwei Klassen, die dem Proletariat nicht angehören, die aber, wenn sie sich von ihrer engen bürgerlichen Auffassungsweise zu emanzipieren vermöchten, mit Jubel dem Sozialismus zustimmen müßten: das sind die Lehrer und die Mediziner (Hygieniker, Gynäkologen, Ärzte). Man sollte also gerade von Männern wie Hegar und seinesgleichen erwarten, die durch ihre berufliche Stellung die zahllosen Übel kennen, an welchen die große Mehrheit der Menschen und insbesondere die Frauen wesentlich infolge unserer sozialen Verhältnisse leiden, daß sie sozialen Heil- und Umgestaltungsmaßregeln im großen, die allein wirklich helfen können, das Wort redeten. Das geschieht aber nicht. Sie verteidigen vielmehr Zustände, welche die Unnatur selbst sind, und decken mit ihrer Autorität die faul und morsch gewordene Gesellschaftsordnung einer Gesellschaft, die täglich beweist, wie ratlos sie den immer größer werdenden Übeln physischer und moralischer Natur gegenübersteht. Das ist eben das Empörende an dem Verhalten so vieler Männer der Wissenschaft, die zum Teil nur den einen Entschuldigungsgrund für sich haben, daß das gesellschaftliche Milieu, in dem sie leben, und die ihnen durch dasselbe zur zweiten Natur gewordenen Vorurteile ihnen das Darüberhinausdenken unmöglich machen; sie bleiben bei aller Wissenschaftlichkeit "Arme im Geiste".
Hegar hat wie Ziegler eine eigene Art, zu zitieren; auch er nimmt Unwesentliches heraus und läßt Wesentliches fort und konstruiert alsdann die Widerlegung. Die große Bedeutung, die ich der normalen Befriedigung des Geschlechtstriebs für reife Menschen beilege, veranlaßt ihn hauptsächlich, gegen mich zu polemisieren, wobei er tut, als redete ich der Unmäßigkeit das Wort. Er hebt hervor, daß ich mich auf Buddha und Schopenhauer beziehe, und bezeichnet die Äußerungen Hegewischs und Buschs als veraltet, verschweigt aber, daß Autoritäten wie Klencke, Ploß und Krafft-Ebing, die sich weit eingehender als die Vorgenannten äußern, auf meiner Seite stehen. In der vorliegenden Auflage zitiere ich weiter den konservativen Moralstatistiker v. Öttingen (Seite 118 ff.), der auf Grund seiner statistischen Studien zu ganz ähnlichen Resultaten kommt wie ich. Diesen allen hat Hegar nichts Besseres gegenüberzustellen als eine Statistik von Decarpieux über die Sterblichkeit der Ledigen in Frankreich aus den Jahren 1685 bis 1745 (!!!) und eine solche der Eheleute nach Bauer, die sich auf die Jahre 1776 bis 1834 bezieht. Beide Statistiken sind zu einer Zeit aufgenommen, wo die Statistik noch sehr im argen lag, und können als beweiskräftig nicht angesehen werden.
Aber Hegar verwickelt sich auch in starke Widersprüche. Auf Seite 9 seiner Schrift führt er als Beweis an für die Ungefährlichkeit geschlechtlicher Enthaltsamkeit erwachsener Menschen die katholischen Geistlichen sowie die männlichen und weiblichen Ordensangehörigen, die aus freiem Willen das Zölibat auf sich nehmen. Er bekämpft den Einwand, daß diese Personen nicht enthaltsam lebten; dazu zwinge sie außer dem Pflichtgefühl die öffentliche Stellung, wodurch jeder Fehltritt dem allgemeinen Klatsch verfiele und bald zu Ohren des Vorgesetzten komme. Aber auf Seite 37 und 38 seines Buches führt er wörtlich aus: "Eine von Druruy (bei Bertillon zitiert) festgestellte Tatsache spricht doch sehr entschieden für einen direkten nachteiligen Einfluß des unterdrückten Geschlechtstriebs auf die Erzeugung dieser Kategorie von Verbrechen (Notzucht, Attentate gegen Kinder usw.). Druruy hat die während dreißig Monaten in von Laien oder von Geistlichen geleiteten Schulen vorgekommenen Ausschreitungen gegen die Sittlichkeit gegenübergestellt. 34.873 Laienschulen wiesen 19 Verbrechen und 8 Vergehen, 3.581 Kongregationistenschulen 23 Verbrechen und 32 Vergehen auf. Die von religiösen Kongregationen gehaltenen Institute zählen daher viermal mehr Vergehen und zwölfmal mehr Verbrechen gegen die Sittlichkeit! " Ich meine, wer sich selbst so widerlegt, den brauche ich nicht zu widerlegen.
Ähnliche Widersprüche enthält Hegars Schrift noch mehrere. Auf Seite 18 und 19 gibt er Sterblichkeitstabellen über Frankreich, Paris, Belgien, Holland, Preußen, Bayern, welche Auskunft geben über die Zahl der Gestorbenen in den verschiedenen Altersklassen auf je 1.000 Verheiratete oder Ledige. Diese Tabellen sprechen fast sämtlich zugunsten meiner Auffassung, denn sie ergeben, daß die
Weitere Kostenlose Bücher