Melodie der Sehnsucht (German Edition)
Erstes Kapitel
Ariège, 1246
»Die junge Parfaite 1 Sabine ist ja ein wunderschöner Anblick«, wisperte die rundliche Frau neben Fleurette ihrem Gatten zu. »Und ihre Worte sind wahrhaft erhebend. Aber so langsam könnte sie die Andacht beenden.«
Der Mann nickte zustimmend und Fleurette fühlte sich etwas getröstet. Bisher hatte sie nicht nur gefroren, sondern sich obendrein dafür geschämt, das Ende dieses heimlichen Gottesdienstes herbeizusehnen. Aber offensichtlich ging es den anderen Gläubigen ebenso wie der kleinen Zofe: So gute Christen sie auch waren, der nächtliche Kirchgang überforderte sie nach der Tagesarbeit – ganz abgesehen von den damit verbundenen Ängsten. Fleurette zumindest hasste es, mitten in der Nacht aufzustehen und sich heimlich und ohne ausreichende Beleuchtung über zugige Treppen in die Gewölbe des Schlosses hinunterzutasten. Und dann die endlosen Gebete in der eisigen Kälte des Burgverlieses. Fleurette war diese Zusammenkünfte leid. Sie sehnte sich nach ihrem warmen Lager vor dem Kamin in ihrer Kammer.
Sabine de Clairevaux, Fleurettes sonst durchaus verständnisvolle und freundliche Herrin, kannte hier jedoch kein Pardon. Im Gegenteil, die junge Frau freute sich auf die nächtliche Andacht und nahm ganz selbstverständlich an, dass Fleurette ihre Empfindungen teilte. Sie schien auch eindeutig nicht zu frieren. Im Gegenteil, ihre Wangen glühten, während sie den Menschen in der heimlichen Kapelle Psalme und Bibelstellen vortrug und ihnen immer wieder Mut zusprach.
»Gott teilt unsere Sorgen, er spürt unsere Angst, und er weiß, wie schwer es uns fällt, unseren Glauben jeden Tag wieder zu verleugnen. Viele von uns befürchten, dass er uns dafür verachtet, sich vielleicht von uns lossagt. Aber diese Angst ist unbegründet, meine Freunde! Nur die Fehlgeleiteten glauben an einen harten, strafenden Gott. Wir dagegen wissen, dass er unbeschränkt gut und verständnisvoll ist. Wir müssen daran glauben, dass das Gute siegt. Dass es über alle Scheiterhaufen triumphiert. Wir dürfen die Flammen der Lüge nicht fürchten!«
Die junge Vorbeterin blickte mit glühenden Augen über ihre Gemeinde, und ihre Worte klangen beseelt und mitreißend. Wenn Fleurette sie nur nicht schon tausend Mal gehört hätte! Und wenn sie nicht manchmal wagte, an ihrem Sinn zu zweifeln. Fleurette fand Scheiterhaufen durchaus beängstigend und sah keine Glorie darin, auf einem solchen zu enden. Sie starb ja schon tausend Tode auf ihren heimlichen Gängen in den Gebetsraum im Keller und erst recht bei Sabines seelsorgerischen Besuchen bei alten und unpässlichen Mitgliedern der Gemeinde. Wenn die Obrigkeit sie erwischte und als Katharer enttarnte, wäre das der sichere Tod. Für Sabine, und bestimmt auch für ihre brave Zofe.
Um sich von diesen beunruhigenden Gedanken abzulenken, spähte das Mädchen über den Rand seines Gebetbuches in die vorderen Reihen der Gläubigen. Philippe de Montcours, ein schlanker, junger Ritter, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Der hochgewachsene junge Graf kniete in tiefer Andacht vor dem schlichten Altar und dem Pult der Vorbeterin. Fleurettes interessierte Blicke wanderten über sein dichtes, lockiges, blondes Haar, das halblang über seine breiten Schultern fiel. Philippes Kleidung war schlicht, aber gut geschnitten. Unter der Surcotte, einem weiten Obergewand aus feinstem Tuch, war sein muskulöser Körper zu erahnen, die weiten Ärmel verbargen starke, im Schwertkampf gestählte Arme. Fleurette stellte sich vor, von ihnen umfasst und von seinen sensiblen, aber kräftigen Händen gestreichelt zu werden. Mit einem lüsternen Blick fuhr sie über seine wohlgeformten Schenkel, erfasste das Muskelspiel unter der Surcotte, als er seine Stellung ein wenig veränderte.
Fleurette träumte sich kurz in die Position ihrer Herrin Sabine. Es müsste schön sein, den Ritter auch von vorn bewundern zu können, vielleicht ein Leuchten der Lust und der Leidenschaft in seinen klaren blauen Augen aufblitzen zu sehen ...
Über diesem Tagtraum wurde Fleurette endlich warm. Aber dann rief sie sich entschlossen zur Ordnung. Wie konnte sie nur von der fleischlichen Liebe fantasieren? Hier, während der Andacht! Sicher war das eine Sünde. Oder doch nicht? So langsam kam Fleurette durcheinander mit dem alten und dem neuen Glauben.
Dabei war bis vor einigen Monaten noch alles ganz einfach gewesen. Sabine de Clairevaux, ihre Familie und natürlich auch ihre treue Zofe, hatten der Religion der
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