Die Frau vom Leuchtturm - Roman
1. Kapitel
Im Oktober fuhr ich nach Freedman’s Cove.
Bobby war jetzt schon über drei Monate nicht mehr da, aber ich war immer noch nicht in der Lage, das tägliche Leben in der Stadt zu bewältigen: Weiterhin musterte ich die Gesichter von Fremden hinter den regennassen Scheiben vorbeifahrender Taxis. Immer noch hoffte ich verzweifelt und gegen jede Wahrscheinlichkeit, der nächste hochgewachsene, blonde Mann, der auf der Straße auf mich zukam, wäre mein Bobby. Immer noch konnte ich minutenlang vergessen, dass er nie wiederkommen würde.
Wahrscheinlich war ich tief im Inneren überzeugt davon, dass er plötzlich an der nächsten Ecke auftauchen und auf mich zulaufen würde, um mich zu umarmen. Zwischen fordernden, tränenreichen Küssen würde er mir erklären, wo er so lange gewesen war und warum er nie angerufen hatte, um mir zu sagen, dass er noch lebte.
Verdrängung lautet der Fachausdruck dafür, wie ich mit der Nachricht von Bobbys Tod umging. Das heißt, dass ich mich weigerte, mich damit auseinanderzusetzen. Vielleicht hängte ich mich ja so stur an meine lächerliche Hoffnung, ihn an einem vertrauten Ort wiederzufinden, weil genau so etwas ihm ähnlich gesehen hätte, wäre er noch am Leben gewesen.
Und dann waren da meine Tagträume.
In meiner liebsten Fantasie war Bobby endlich wieder nach Hause gekommen. Obwohl ich schrecklich wütend auf ihn war, weil ich in hundert einsamen Nächten bittere Tränen geweint und Höllenqualen erlitten hatte, schmolz der Schmerz jedes Mal dahin wie Schnee in der Sonne, wenn seine Lippen meinen Mund das erste Mal berührten. Und als wir endlich wieder miteinander schliefen, waren die Empfindungen so intensiv, dass es weit über bloße Leidenschaft hinausging.
Nachher lagen wir nackt unter unserer wärmsten Daunendecke und klammerten uns verzweifelt aneinander, vor einem Feuer in dem schlecht ziehenden, rauchenden Kamin, den zu reparieren er immer versprochen hatte, wozu er jedoch nicht mehr gekommen war. Anschließend ließen wir uns von dem kleinen griechischen Laden in unserer Straße Essen kommen. Mit erhitzten Wangen vom stundenlangen Sex und dem blutroten Kapwein, den er von einem Flug nach Afrika mitgebracht hatte, lauschte ich dann versonnen den Einzelheiten von Bobbys wundersamer Errettung vor dem sicheren Tod.
Denn ganz anders, als die australische Navy gemeldet hatte, war sein Flugzeug nicht in den von Haien wimmelnden Weiten des Indischen Ozeans abgestürzt. Stattdessen war das beschädigte Flugzeug, dessen Funktechnik nicht mehr funktionierte, von einem plötzlich auftretenden Sturm weit vom Kurs abgebracht worden und auf einer winzigen Insel notgelandet; einem unbewohnten Fleck auf der Landkarte, den die Suchmannschaften übersehen hatten, weil er so weit von der geplanten Flugroute der Maschine entfernt lag.
Während Bobby mir die unglaubliche Geschichte seiner Rettung erzählte, blitzten seine blauen Augen im Schein des Feuers, und irgendwie brachte er es fertig, die ganze Sache heiter und nicht besonders gefährlich klingen zu lassen. Bis hin zu dem Punkt, wenn er beschrieb, wie er am Strand eine windschiefe Bambushütte gebaut und erfolglos versucht hatte, Fisch zu fangen, während er darauf wartete, von einem vorbeifahrenden Schiff gerettet zu werden, rollten mir unkontrollierbare Lachtränen über die Wangen.
Aber all das geschah nur in meiner Fantasie.
Denn im wahren Leben machen Firmenjets, wie Bobby sie bis zu seinem Verschwinden im Juli geflogen hatte und die sechshundert Meilen pro Stunde zurücklegen, keine Notlandungen auf unbewohnten tropischen Inseln. Und selbst wenn, dann wäre bei der Explosion, die praktisch garantiert ist, wenn ein angeschlagener Jet außerhalb eines Flughafens landet, mit Sicherheit jeder an Bord umgekommen.
Der Fachausdruck dafür lautet bittere Realität.
Nichts an meinen Wachträumen über Bobbys Rückkehr war real.
Nur die Tränen, die ich am Ende vergoss, waren echt.
Laura, die schmale, elegante Therapeutin, deren Praxis in der Park Avenue ich ein paar Mal aufsuchte, nachdem mir klar wurde, dass ich immer tiefer in meine Fantasien rutschte, meint, Selbsttäuschungen, wie ich sie hegte, seien nach dem Tod eines nahestehenden Menschen ziemlich häufig, insbesondere wenn man keinen physischen Beweis für die schreckliche Endgültigkeit seines Verlusts habe.
»Physischer Beweis« war natürlich Lauras zartfühlende
Art, darauf anzuspielen, dass Bobbys Leiche nie gefunden worden war. Denn, wie sie mir
Weitere Kostenlose Bücher