Die Frauen von Clare Valley
Idee. Sie wollten alle drei Nächte im selben Hotel bleiben. An einem Abend in ein Musical gehen. Mit der Tram fahren. Vielleicht ein Museum, eine Ausstellung besuchen. Und einen Tag wollten sie gemeinsam nach Brighton fahren. Auch das war Betts Idee. Sie war Lola in den letzten drei Tagen nicht von der Seite gewichen. Sie hatte zugehört, wenn Lola über Alex sprach, den Mann, den sie vor so vielen Jahren gekannt, den Mann, den sie für viel zu kurze Zeit wiedergefunden hatte. Zugehört, wenn Lola über das sprach, was sie damals, was sie auch jetzt an ihm geliebt hatte, über das, was sie getan hätten. Wenn sie sich wiedergesehen hätten.
»Machen wir es trotzdem«, hatte Bett gesagt. »Zu seinem Angedenken.«
Es würde ein trauriger Tag für Alex’ Familie, für Lola. Doch sie hoffte, dass sie auch lachen könnten. Erinnerungen teilen könnten – an einen geliebten Vater, Großvater, Freund. Vielleicht würden neue freundschaftliche Bande geknüpft, zwischen ihrer und Alex’ Familie. Und wer wusste schon, welch scheinbar belangloses Ereignis an diesem Tag geschehen und welch große Dinge es anstoßen würde? Schließlich hatte etwas so Banales wie eine kurze Unterhaltung an der Kasse eines Supermarkts vor fünfzig Jahren dazu geführt, dass sie nun hier in diesem Flugzeug saß, zwischen ihrem Sohn und ihrer Enkelin, im Anflug auf Melbourne, auf dem Weg zu Alex’ Begräbnis.
Ja, das Leben war schon ungewöhnlich. Lola sah sich im Flugzeug um. All diese Menschen, nach außen hin alle so gewöhnlich. Doch wer wollte sagen, was sie in ihrem Leben schon alles getan hatten oder hofften, noch zu tun? Lola hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was im Kopf und im Leben von Bett und Jim vorging, doch auch diese beiden hatten sicherlich Geheimnisse. Wenn sie jeden einzelnen Passagier hier fragen könnte, was sie oder er sich am meisten wünschte und am meisten fürchtete, würde sie dann lauter unterschiedliche Antworten erhalten? Sicher. Und was war mit den vielen Hotelgästen, die ihr im Laufe ihres Lebens begegnet waren? Menschen, mit denen sie nur flüchtig zu tun gehabt hatte, ein Gruß am Empfang, eine beiläufige Unterhaltung im Speisesaal? So viel Leben und Liebe, Angst, Hoffnungen und Träume. Vielleicht war es gut, dass die Menschen ihr Innerstes für sich behielten. Was für eine Kakofonie, wenn alle ihre Hoffnungen, Träume und Sorgen äußern würden! »Werde ich mich je verlieben?« – »Bekomme ich meinen Traumjob?« – »Werde ich einmal Kinder haben?« – »Werde ich irgendwann reich?«
Und welches wäre wohl die Frage, die sich ein jeder stellt? »Wird alles gut?«
Das konnte niemand sagen. Das wusste Lola aus Erfahrung. Und dennoch, so ausgeschlossen war es nicht, dass alles gut würde. Doch dafür musste man das Gute und das Schlechte akzeptieren – nicht nur im Leben, sondern auch in den Menschen, in seinem Schicksal, seinem Denken. Ein Patentrezept für ein perfektes Leben gab es nicht, weil es kein perfektes Leben gab. Wichtig war, dass man seinen Platz fand, in seinem Universum, in seiner ureigenen Konstellation aus Familie und Freunden. Die Freiheit hatte, in den Orbit eines anderen Menschen einzutreten und ihn wieder zu verlassen, aufeinander zu- und voneinander fortzudriften.
Genau so war es ihr ergangen. Ihr, ihrer Familie und ihren Freunden. Sie alle lebten ihr eigenes Leben, und doch blieben sie verbunden. Sie alle waren mit ihren Ängsten, Sorgen und Hoffnungen allein, und doch fanden sie Trost, Freude und, ja, Liebe bei anderen.
Das Flugzeug setzte zur Landung an. Lola nahm Jims Hand, dann Betts Hand und drückte sie. Die Geste wurde erwidert.
Lola wusste nicht, was dieser Tag ihr bringen würde, doch nach fünfundachtzig Lebensjahren konnte sie es sich annähernd vorstellen. Ganz sicher erwarteten sie Traurigkeit und Kummer, aber vielleicht auch ein wenig Glück und Freude. Sie würden neue Menschen kennenlernen. Geschichten hören. Gedanken austauschen. Gemeinsam etwas essen, etwas trinken.
Lola schloss die Augen. Eines wusste sie gewiss. Jeder einzelne Moment dieses Tages würde neue Erinnerung gebären, und sie alle würden diese Erinnerungen von nun an in sich tragen. Konnte man mehr von einem Tag – von einem Leben gar – erwarten?
Danksagung
Ein großes Danke an:
John Neville, Noel Henny, Padraig O’Sullivan, Anthony Murphy, David Healy, Rachel Tys, Marylou Jones, Frances Brennan, Kate Strachan, Dominic McInerney, alle Mitarbeiter der Clare Library in South
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