Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
I
OLIVER
Ich hätte eine stärkere Reaktion erwartet, als ich das erste Mal zuschlug. Doch sie lag einfach nur da, stumm, und hielt sich die Wange. Starrte mich an. Schien nicht mal überrascht.
Ich schon. Das hätte ich nicht von mir erwartet; das war nicht meine Absicht gewesen. Hört man sonst von derlei Dingen, steht einem ein Szenario aus den Fünfzigern vor Augen: Der glorreiche Gatte kommt sturzbetrunken nach Hause zu seiner Alten, die mal wieder das Essen hat kaltwerden lassen. Hier hingegen hatten wir den 12. November2011 , ein winterlicher Samstagabend in einer von prächtigen Bäumen bestandenen Straße im Süden Dublins. Alice hatte uns ein köstliches Mahl bereitet, bestehend aus Lamm-Tajine auf Couscous, dazu Pittabrot und Joghurt mit Gurke und frischer Minze. Das Lamm hätte heißer sein können, doch ich fand sonst nichts daran auszusetzen. Bis Alice die Biskuitrolle mit Himbeeren servierte, hatte ich alles mit zwei Gläsern Sancerre heruntergespült. Betrunken war ich ganz sicher nicht.
Doch nun, da lag sie: die untere Hälfte ihres Körpers halb verborgen hinter den schweren Mahagonibeinen unseres Esstischs, Arme, Kopf und Oberkörper seltsam eingerollt, wie ein Fragezeichen. Merkwürdige Haltung. Wie war sie nur so gefallen? Hinter meiner geballten Faust musste beträchtliche Kraft gesteckt haben. Mal angenommen, ich hätte das Glas noch in der Hand gehabt, was wäre dann passiert? Hätte ich innegehalten und es abgestellt, ehe ich zuschlug? Oder hätte ich es ihr ins Gesicht geschmettert? Wäre es zersprungen und hätte ihre blasse Haut zerschnitten? Hätte ich ihr Narben zugefügt, die sie ihr Lebtag mit sich hätte herumtragen müssen? Schwer zu sagen. Hier drängt sich geradezu die Formulierung auf von jenen »Umständen, die sich unserer Kontrolle entziehen«. Ich betone das »unser«, denn obwohl ich natürlich weiß, dass ich es nicht hätte tun sollen, war sie es, die mich provoziert hat.
Das Telefon klingelte. Vielleicht ein Fehler, da dranzugehen, aber womöglich war es wichtig.
»Hallo?«
»Oliver, hier ist Moya. Und, wie geht es?«
Mein Gott, wie mir diese rhetorischen Fragen auf den Geist gehen. Ja, wie geht es denn?
»Tut mir leid, Moya, ich habe Alice gerade eine reingehauen, sie liegt hier auf dem Boden. Und wir haben ziemlich köstlich zu Abend gegessen.«
Das sagte ich natürlich nicht. Ich versuchte es mit irgendeiner dämlichen Entschuldigung und wartete darauf, dass sie sich verabschiedete.
Kurzes Schweigen, dann …
»Willst du nicht wissen, wie es mir geht? Wo ich bin?«
Ich brachte die Sache kurz und knapp auf den Punkt. »Nein.«
Wieder Schweigen. Dann ein Flüstern: »Ah, verstehe. Ist Alice da?«
»Zieh Leine, blödes Weib.«
Auch das sagte ich nicht. Vielmehr erklärte ich, dass es gerade ungünstig wäre. Moya versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln, laberte irgendwas von ihrem neuen Leben in Frankreich. Selbst in dieser Ausnahmesituation war mir klar, dass sie mich eifersüchtig machen wollte. Höflich, aber bestimmt beendete ich das Gespräch.
Es schien mir das Beste, umgehend das Haus zu verlassen. Vorübergehend, versteht sich. Alice würde wahrscheinlich schneller wieder auf die Beine kommen, wenn ich nicht da wäre. Ich ging in den Flur und nahm meinen Mantel von der Garderobe. Gar nicht so einfach, die Knöpfe zuzubekommen; auch meine Hände schienen auf einmal zu groß für meine Handschuhe.
Zwei Stunden später im Nash’s, vor mir mein dritter Brandy. Ich saß da, öffnete und schloss die Knöpfe an meinen Hemdmanschetten. Das mache ich immer, wenn ich nervös bin, eine Angewohnheit aus der Kindheit. Selbst John-Joe ist mein seltsames Gebaren nicht entgangen. Als er mich bedient hat, musste er natürlich eine Bemerkung fallen lassen. Gut, normalerweise trinke ich keinen Brandy. Aber wie gesagt, ich stand unter Schock. Jetzt war ich wirklich betrunken.
Ich wollte Alice anrufen und fragen, ob alles in Ordnung war, hatte in der Eile des Aufbruchs aber mein Handy zu Hause liegen lassen. Mir von jemand das Telefon zu leihen, fand ich der Situation dann doch nicht angemessen. Nicht dass wir uns hier falsch verstehen, mir war der Ernst der Lage bewusst. Doch es lag eine grobe Fehleinschätzung vor. Sie hätte nicht zu Boden gehen sollen.
Mir ist auch bewusst, dass ich kein einfacher Mensch bin. Das hat Alice ganz richtig erkannt. So habe ich beispielsweise keine Freunde. Früher hatte ich welche, aber das ist schon etliche Jahre her und
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