Die Frauen von Clare Valley
sie es scherzhaft nannten, in München getroffen. »Das macht dir doch nichts aus, Mum, oder?«, hatte Katie gefragt. »Es ist ja nur ein Tag. Und es ist so toll hier. So wie man sich Weihnachten vorstellt, kalt, verschneit, alles ist dekoriert, und erst die Weihnachtsmärkte …«
»Aber natürlich macht es mir nichts aus«, hatte sie erwidert. Natürlich machte es ihr etwas aus. Sie wollte ihre Kinder wiederhaben. Ihren Ehemann. Sie wollte die Zeit zurückdrehen, auf das Leben vor dem Arbeitsunfall, der aus dem fröhlichen, begeisterungsfähigen Mann, den sie einst geheiratet hatte, einen mürrischen Schweiger gemacht hatte. Sie hatte alles versucht, von Mitleid bis zu klaren Worten. »Es war nicht deine Schuld, Tony. Du hast Ben nicht getötet.«
»Doch, habe ich. Ich war sein Chef. Ich hätte auf seine Sicherheit achten müssen.«
Hin und her war es gegangen, monatelang. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, sie ihn beschwichtigt, bis ihnen die Worte ausgegangen waren. Die Gesprächsthemen. Doch an diesem Nachmittag hatte sie die Fassung verloren, waren Tränen geflossen. Sie musste irgendetwas tun, und zwar dringend. Wenn sie Weihnachten wieder ohne ihre Kinder erleben musste, dann nicht an diesem Ort. Helen hatte vor, mit Tony wegzufahren, vielleicht sogar für mehrere Tage. Irgendwie würde sie das Geld schon aufbringen. Es war knapp, keine Frage. Je tiefer Tony in die Depression rutschte, umso mehr litt seine Autowerkstatt. Wenn sie mit ihrer Teilzeitstelle als Lehrerin nicht dazuverdient hätte, wären sie längst in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten. Doch für diese Reise würde sie zur Not ihre allerletzten Ersparnisse antasten.
Tony um seine Meinung oder um Vorschläge zu bitten, hätte keinen Sinn gehabt. Helen war nachmittags online gegangen, hatte nach »Weihnachtsferien und Hotels« gegoogelt und war dann ziemlich bald auf ein Motel in Clare Valley, South Australia, gestoßen. Das klang, als wäre es genau das Richtige. Es lag zwanzig Kilometer hinter der Grenze zu Victoria, also entspannte vier Stunden mit dem Auto entfernt. Mit dem Flugzeug ginge es natürlich schneller, doch Tony hatte neuerdings Flugangst. Vielleicht aber war das bloß ein Vorwand, damit sie nicht zu ihren Kindern nach Europa reisen konnten – was Helen, wie so vieles, zu seiner Aufmunterung vorgeschlagen hatte. Die Beschreibung des Motels hatte ebenfalls gut geklungen, ein ganz gewöhnliches Motel auf dem Lande, nichts Spektakuläres, mit einigen Sehenswürdigkeiten in der Nähe, historische Gebäude, kleine Weingüter … Außerdem waren sie noch nie in diesem Teil Australiens gewesen. So hätten sie, wenn auch nur für wenige Minuten, ein Gesprächsthema. Helen fehlte es so sehr, mit ihrem Mann zu sprechen. Sie hatten über so vieles geredet und gelacht … Sicher, die Umstände, die Fahrt, die Kosten für die Unterbringung, das Benzin, egal. Sie musste raus, auch wenn es auf Tony keine Wirkung hätte.
Wo war er eigentlich? Früher war er nach der Arbeit gleich in den Garten zu seinem Gemüsebeet gegangen oder hatte sogar angeboten zu kochen. Nun saß er im Wohnzimmer, vor dem Fernseher. Sein aktuelles Feierabendritual. Manchmal, mit ein wenig Glück, konnte sie ihm dann einige Worte entlocken. Der Anblick, wie er so kläglich in seinem Sessel kauerte und vor sich hin starrte, brach ihr fast das Herz. Sie musste etwas tun, etwas an ihrem Leben ändern.
Drei Mausklicks später war sie wieder auf der Webseite des Valley View Motels. Helen las sich die Angaben zur Weihnachtsaktion kein zweites Mal durch. Sie öffnete gleich das Anfrageformular und füllte die nötigen Felder aus: ein Doppelzimmer, zwei Gäste, Namen, Adresse. Sie schickte die E-Mail los, ging ins Wohnzimmer und setzte mühsam eine heitere Miene auf.
»Tony?«
»Hm?«
Er hörte sowieso nicht zu. Seit Monaten nicht mehr. Helen sagte bemüht fröhlich: »Schatz, ich hab eine Idee. Wegen Weihnachten …«
In der Zwischenzeit traf im Nebenzimmer eine neue E-Mail ein. Die Betreff-Zeile lautete: H erzlichen G lückwunsch !
Gast 4
Irgendwo in ganz Australien musste es doch einen Ort geben, der kein Wintertheater veranstaltete und Truthahn und Ofenkartoffeln für das passende Menü an Hochsommertagen hielt! Wo man einen Salat bekam! Wo es kühl war. Grün. Bloß nicht auf eine dieser tropischen Inseln vor Queensland. Den Fehler hatte Martha vor zwei Jahren gemacht. Da hatte sie sich über die Weihnachtstage in einem Resort eingebucht, in der festen
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