Die Frequenzen
so lange nachgedacht hatte, bis er schließlich einen quirlig-verzweifelten Roman darüber geschrieben hatte. Was ist ein Sohn für einen Vater?, dachte er mit einem halb geleerten Sektglas in der Hand. Es ist auf jeden Fall eine ausgesuchte Beziehung, anders als die zwischen Tochter und Vater, Mutter und Sohn. Das merkwürdig Virtuelle an der Vater-Sohn-Beziehung kann nicht genug betont werden, dachte er und nahm einen großen Schluck Sekt, der sich in seiner Kehle zu brennendem Schaum verwandelte, es ist keine symbiotische Beziehung zwischen ihnen da, niemals, zu keiner Zeit. Im Gegenteil, dachte er und schwankte. Was mache ich überhaupt hier? Ich habe hier nichts verloren zwischen all diesen Menschen, die das Rad der Geschichte weiterdrehen mit ihren zukünftigen Generationen und Kindern und Eltern und allem Drum und Dran und –
Messerschmidt riss sich von ihm los. Die Lawinen im Kopf des jungen Mannes stürzten unterdessen lautlos weiter durcheinander. Er trank ein Glas Sekt nach demanderen und war sehr unglücklich über die Dinge, die ohne Aufsicht durch seinen Kopf geisterten.
Messerschmidt drehte sich noch einmal um, ging zu dem jungen Mann und trat ihm auf den Fuß. Das Gesicht des jungen Mannes hellte sich auf, und wie ein Schluckauf befiel ihn die Erinnerung an einen alten Witz, den er vor sehr langer Zeit einmal gehört hatte, die berühmte Antwort Mahatma Gandhis auf die Frage eines Reporters:
What do you think of western civilisation? Well
, hatte Gandhi gesagt,
I think it would be a wonderful idea
. Der junge Mann mit der ernsten Brille gluckste plötzlich wie ein kleines Kind und blickte nieder auf seinen Fuß, seinen Schuh, in dem, wie ihm jetzt zum ersten Mal aufzufallen schien, lauter kleine Wackelzehen steckten, die sich auf äußerst witzige Weise von selbst bewegen konnten, was ja schon für sich eine ganz ungeheure Sache war, eigentlich ein Wunder, und wenn man es genau bedachte, war sehr vieles auf Erden sehr witzig und es wert, belacht zu werden. Er kicherte und schüttete den Rest des Sekts ins Gras. Ein wenig davon rann ihm über den Daumen, und er leckte ihn herzhaft ab. Glücklich ging er in irgendeine Richtung davon.
What did the mystic say at the hotdog stand? Make me one-with-everything!
Haha! Messerschmidt hörte sein heiter-bedrücktes Gelächter aus der Richtung, wo sich der Ausgang befand.
Weiter, weiter. Die Zeit drängte.
Eine Frau, die vor kurzem ihr Medizinstudium beendet hatte. Seit ihr Vater, der berühmte Professor Leitgeb, der frühere Direktor der Schule, in der sie vor vielen Jahren die Matura gemacht hatte, unter ungeklärten Umständen gestorben war, interessierte sie sich für Heilkunst. Als Mädchen hatte sie begonnen, mit einem Spielzeugstethoskop zu spielen, in dem sie das Leben selbst rauschen gehörthatte, wenn sie es an die Bäuche oder Halsschlagadern ihrer Teddybären hielt. Sie würde in exakt vierundzwanzig Jahren für den Nobelpreis vorgeschlagen werden, für die Entdeckung und Entwicklung eines Heilmittels gegen die
Löwy’sche Krankheit
, eine Seuche, die in exakt fünfzehn Jahren zum ersten Mal epidemisch auftreten würde.
Weiter.
Ein bekanntes Glühen. Der Architekt. Mein Gott, er hatte sich sehr verändert. Sein Kopf war zweifarbig, das alte Braun und das neue Grau. Silberadern, so dick wie Nylonfäden, zogen sich durch sein zu einem dünnen Pferdeschwanz gezähmtes Haar. Messerschmidt sah ihn an seinem Schreibtisch sitzen, vor sich die Abrechnungen des Monats, viele, viele Zettel, beschrieben mit Tausenden Ziffern, die ein geheimes Prinzip in sich bargen, das nur er kannte. Den ganzen Vormittag korrigierte und kontrollierte er die Zahlen und dachte sich: Komisch, so still hier … Und er steckte seinen Kopf aus der Tür seines Büros. Tatsächlich niemand. Also setzte er sich wieder hin. Nach etwa einer Stunde klingelte das Telefon, und eine Stimme sagte etwas von einem schrecklichen Unfall. (Messerschmidt hörte den letzten versickernden Rest dieser Stimme; sie war so fern wie nur irgendetwas.) Doch jetzt war er relativ entspannt. Es ging alles gut. Auf dem Weg hierher, zur Hochzeit, war er an seinem neuesten Projekt vorbeigekommen, die Säulen, ein revolutionäres Kunstwerk. Und bei der Eröffnungsfeier war sein Herz übergelaufen vor Glück, weil er seinen Sohn in der Zuschauermenge erkannt hatte, verkleidet und unauffällig, aber trotzdem, es gab keinen Zweifel. Er war so stolz auf ihn, dass es ihm nicht schwer fiel, ihn in Ruhe zu lassen
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