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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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der Möglichkeit von so viel Glück! So viel auf einmal! Wie ein Stapel Matratzen, die einen unter sich begraben, und man spürt nicht einmal ihr Gewicht. Und ihre Eltern waren auch hier, sie konnte sie fühlen, sie waren überall. Jedenfalls konnten sie sie jetzt sehen, in diesem wunderbarsten, glücklichsten Moment, den ihre Tochter ganz allein durchstehen würde, ohne Ratschläge, an denen sie sich festhalten konnte wie an Schultern, wenn ihr vor lauter Vorfreude so schwindlig wurde, dass sie sich für einen kurzen Augenblick wieder zuhause in ihrem Bett wähnte, vor dreißig Jahren, zwischen ihren beiden Brüdern, von denen der eine am Steuer des Unglückswagens ihrer Eltern gesessen warund der vor einem Jahr Selbstmord begangen hatte, nach vielen Jahren im Rollstuhl, und nun saß auch ihr zukünftiger Ehemann im Rollstuhl, ein wiederkehrendes Muster, etwas, das sich wiederholte, was ihr so egal war wie alles, was sich wiederholte. Wiederholungen machten stärker, und selbst die kryptischen Anspielungen ihres neuen Stiefsohnes Alexander machten ihr nichts mehr aus, denn sie glühte, sie tanzte auf den frischen, unverbrauchten Unsicherheiten, aus denen ihr neues Leben bestand, sie brach sie auseinander wie Kekse und zerrieb sie zwischen den Fingern, die jetzt geküsst wurden, wirklich geküsst, nicht nur in ihrer Vorstellung, nicht nur in ihren langen und einsamen Tagträumen in der Rehaklinik, wenn sie an den riesigen Heizkörper gelehnt auf ihren Bruder wartete –
    Messerschmidt ließ die Schultern des alten Mannes los. Dieser schmiegte sich jetzt an die Handfläche der Frau, drückte seine trockenen Lippen auf ihre Fingerknöchel.
    Weiter.
    Ein junger Mann, der gerade einen schlimmen Verlust hatte hinnehmen müssen, ein unaufgeklärter Todesfall, eine Attacke gegen die Frau, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, und nun war alles in ihm sehr kompliziert, gespenstisch vervielfacht und gleichzeitig – er war bis obenhin voll mit Energie, die seine Zunge zu sprengen drohte, und in seiner Jacke steckten zwei Telefone – Messerschmidt witterte ihre nervös vibrierende Anwesenheit, jeden Moment konnten sie losgehen wie Handgranaten – und alles in ihm ging im Kreis, er wollte gar nicht hier sein, weil alles in ihm im Kreis ging, denn gerade erst hatte er einen schlimmen Verlust hinnehmen müssen, und noch war nichts verheilt, was überhaupt verheilen konnte, denn alles ging immer nur im Kreis und jetzt auch noch die Hochzeit seines Vaters, alles war eine einzige Groteske,aber man musste irgendwie am Leben bleiben und sich nicht unterkriegen lassen, und dadurch unterschied er sich sehr von dem jungen Mann mit der ernsten Brille von eben, also ließ Messerschmidt diesen hier in Ruhe, trat ihm nicht auf den Fuß oder zwischen die Beine, von wo ein ungutes Licht auszugehen schien, denn gerade erst hatte er einen Verlust hinnehmen müssen, schon wieder, es ging einfach nicht weg, ging wieder im Kreis, die Zeit war eine kreisförmige Ruine, denn gerade …
Gera …
    An diesem Wort blieb Messerschmidt hängen. Es fühlte sich richtig an.
    Gerade … Gerad …
    Plötzliche Musik, Stimmen, die sich zum Himmel erhoben und wie schwappendes Hafenwasser an die flüsternden Grenzen des Tages schlugen – er stolperte.
    Das vergnügte Gesicht eines Kindes.
Gerald
. Sohn von Jessica Katzek, die sich in der Toilette eingesperrt hatte, laut mit der tief hängenden Decke redete und sich in diesem Augenblick schwor, eine bessere Mutter zu werden, wenn Gott, dieser elende, rachsüchtige Mistkerl mit seinem Sonnenfinsternis-Daumen, ihr nur ihren Sohn wiederbringen würde,
hast du gehört, du fieses Arschloch da oben im Himmel? Eine bessere Mutter!
Seine Kinderhand mit der bunten Armbanduhr schlug im Takt gegen seinen Oberschenkel. Das Lied gefiel ihm. Er trug Valeries letzte Augenblicke in der Tasche. Die Hilfeschreie der flüchtenden Hündin, die Schläge des Metallstabes. Er würde die Bilder jemandem zeigen, der sie wieder jemandem zeigen würde, und so ging es ewig weiter, bis weit über den Horizont hinaus. Dann würde er selbst erwachsen werden und die Rolle eines Vaters einnehmen, ein Vater, den er nie gekannt hatte und der auch gar nicht existierte – aber da war wieder das Knirschen vonschwarzem Glas und das Quietschen von LKW-Reifen, und das Bild des Landfriedhofs, sehr fern, mit gespenstisch leuchtenden Grabsteinen, die zwischen Himmel und Erde schwankten wie betrunkene Schiffslaternen, spannte sich auf wie ein

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