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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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sich wie ausgelassene Kinder, liefen unaufhörlich die Stockwerke hinauf und hinunter und rannten durch die Zimmer, deren Türen geräuschvoll zuschlugen. Waren das nicht die Stunden von früher? Sie war zehn Jahre alt und er neunzehn, sie faßte wieder eine leidenschaftliche Kleinmädchenfreundschaft zu ihm. Nichts hatte sich geändert, im Eßzimmer befand sich noch immer die Anrichte aus hellem Nußbaumholz, die Hängelampe aus poliertem Kupfer, der Blick auf den Vesuv und die vier Lithographien der Jahreszeiten, die sie wie damals erheiterten. Unter dem Glaskasten schlief am selben Platz das Meisterwerk des Großvaters, das schließlich eine solche Einheit mit dem Kamin bildete, daß das Hausmädchen die Gläser und Teller darauf abstellte. Es gab nur einen Raum, in den sie stumm vor innerer Bewegung eindrangen, das ehemalige Schlafzimmer von Frau Chanteau, das seit ihrem Tode unberührt geblieben war. Niemand öffnete mehr den Sekretär, die Wandbespannung aus gelbem Kretonne mit grünlichen Ranken verblaßte einsam in der hellen Sonne, die man zuweilen hereinließ. Am Namenstag von Frau Chanteau, der in diese Zeit fiel, stellten sie große Blumensträuße in das Zimmer.
    Doch bald, als ein Windstoß den Regen vertrieben, stürzten sie ins Freie, auf die Terrasse, in den Garten, zur Felsenküste, und ihre Jugend begann von neuem.
    »Kommst du mit Garnelen fischen?« rief sie ihm des Morgens beim Aufstehen durch die Wand zu. »Das Meer geht jetzt zurück.«
    Sie zogen im Badekostüm los, sie fanden die alten Felsen wieder, die die Flut in den vielen Wochen und Monaten kaum angegriffen hatte. Man konnte glauben, daß sie erst am Tage zuvor diesen Winkel der Küste durchstöbert hätten. Er erinnerte sich.
    »Sieh dich vor! Dort unten ist ein Loch, und der Grund ist mit großen Steinen übersät.«
    Doch sie beruhigte ihn schnell.
    »Ich weiß schon, hab keine Angst ... Oh, sieh doch diese riesige Krabbe, die ich gefangen habe!«
    Eine kühle Sturzwelle stieg ihnen bis zu den Lenden, sie berauschten sich an der frischen Salzluft, die von der offenen See her wehte. Und es waren wieder die Streifzüge von früher, die weiten Spaziergänge, Augenblicke der Rast auf dem Sand, der Unterschlupf, den sie in der Tiefe einer Grotte suchten, um einen plötzlichen Regenguß vorübergehen zu lassen, die Rückkehr auf dunklen Pfaden bei Einbruch der Nacht. Auch unter dem Himmel schien nichts verändert, das Meer war noch immer da, unendlich, in seiner fortwährenden Unbeständigkeit unaufhörlich dieselben Horizonte widerspiegelnd. Hatten sie es nicht gestern erst gesehen, so türkisblau, mit jenen großen blassen schillernden Flächen, in denen sich das Kräuseln der Strömungen ausbreitete? Und dieses bleifarbene Wasser unter dem fahlen Himmel, dieser Regenschauer dort links, der mit der Flut herankam, würden sie dies alles nicht morgen wieder sehen, würde ihnen nicht ein Tag wie der andere scheinen? Vergessene Episoden fielen ihnen wieder ein und wurden lebendig wie die unmittelbare Wirklichkeit. Er war damals sechsundzwanzig und sie sechzehn. Wenn er sich vergaß und sie kameradschaftlich schubste, war ihr beklommen zumute, eine köstliche Befangenheit benahm ihr den Atem. Sie ging ihm indessen nicht aus dem Wege, denn sie dachte an nichts Schlechtes. Ein neues Leben ergriff von ihnen Besitz, geflüsterte Worte, grundloses Lachen, langes Schweigen, aus dem sie zitternd hervorgingen. Die alltäglichsten Dinge bekamen außergewöhnliche Bedeutung, die Bitte um eine Scheibe Brot, eine Bemerkung über das Wetter, die Worte, mit denen sie sich an ihrer Tür eine gute Nacht wünschten. Die ganze Vergangenheit stieg in ihnen empor mit der Süße der eingeschlummerten, jetzt wiedererwachenden alten Liebe. Warum hätten sie sich beunruhigen sollen? Sie widerstanden nicht einmal, das Meer schien sie mit seiner ewigen Eintönigkeit einzulullen und erschlaffen zu lassen.
    So gingen die Tage ohne Erschütterung dahin. Schon begann die dritte Woche von Lazares Aufenthalt. Er reiste nicht ab, er hatte mehrere Briefe von Louise erhalten, in denen sie schrieb, daß sie sich sehr langweile, daß aber ihre Schwägerin sie noch länger bei sich behalten wolle. In seinen Antworten ermunterte er sie zu bleiben und schickte ihr die Ratschläge von Doktor Cazenove, den er in der Tat befragte. Der friedliche, regelmäßige Gang des Hauswesens nahm ihn allmählich wieder gefangen, die alten Stunden der Mahlzeiten, des Aufstehens und des

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