Die Freude am Leben
Gleichgewicht geratenen Menschen, den der immer gegenwärtige Gedanke an den nahen Tod mit Widerwillen gegen das Tätigsein erfüllte und der sich unter dem Vorwand der Nichtigkeit des Lebens unnütz dahinschleppte. Was half alles Tun? Die Wissenschaft war begrenzt, man verhinderte nichts, und man bewirkte nichts. Er hatte die skeptische Langeweile seiner ganzen Generation, nicht mehr jene romantische Langeweile der Werther und Rene, die den Verlust des alten Glaubens beweinten, sondern die Langeweile der neuen Helden des Zweifels, der jungen Chemiker, die sich ärgern und die Welt für unmöglich erklären, weil sie auf dem Boden ihrer Retorten nicht mit einem Schlag das Leben gefunden haben.
Und bei Lazare ging durch einen logischen Widerspruch das uneingestandene Entsetzen vor dem Nimmermehr Hand in Hand mit einer unablässig aufgetischten Großsprecherei über das Nichts. Sein Schaudern, die Unausgeglichenheit seiner hypochondrischen Natur stürzten ihn in die pessimistischen Vorstellungen, in den wütenden Haß gegen das Dasein. Er betrachtete es als Schwindel, da es nun einmal nicht ewig dauerte. Sehnte man sich nicht die ganze erste Hälfte seiner Tage nach dem Glück, um später zu bereuen und zu zittern? Daher auch überbot er noch die Theorien des »Alten«, wie er Schopenhauer nannte, von dem er die krassen Stellen auswendig hersagte. Er sprach davon, den Willen zum Leben zu töten, um dieser barbarischen, blödsinnigen Parade des Lebens, welche die beherrschende Macht der Welt zu einem unbekannten selbstsüchtigen Zweck sich vorführen läßt, ein Ende zu machen. Er wollte das Leben abschaffen, um die Angst abzuschaffen. Immer wieder gab es für ihn am Ende nur eine Befreiung: Nichts wünschen in der Furcht vor dem Schlimmsten, jede Bewegung vermeiden, weil sie Schmerz bedeutet, dann gänzlich dem Tode anheimfallen. Die praktische Möglichkeit eines allgemeinen Selbstmordes, eines von allen Wesen gutgeheißenen, vollständigen, plötzlichen Verschwindens, beschäftigte ihn stark. Dieser Gedanke kehrte zu jeder Stunde wieder, mitten im gewöhnlichen Gespräch, in ungezwungenen und groben Ausfällen. Beim geringsten Ärger bedauerte er, nicht schon krepiert zu sein. Ein harmloser Kopfschmerz war ihm Anlaß genug, sich wütend über sein Gerippe zu beklagen. Im Gespräch mit einem Freund kam die Unterhaltung sofort auf die Widerwärtigkeiten des Lebens, auf das kolossale Glück derer, die unter der Erde liegen und den Löwenzahn fett machen. Die schaurigen Themen verfolgten ihn, er war erschrocken über den Artikel eines phantasierenden Astronomen, der das Erscheinen eines Kometen ankündigte, dessen Schweif die Erde wie ein Sandkorn hinwegfegen sollte: Mußte man darin nicht den erwarteten Weltuntergang sehen, die riesenhafte Kartätsche, die die Welt gleich einem verfaulten alten Schiff in die Luft sprengen würde? Und dieser Todeswunsch, diese gehätschelten Theorien von der Vernichtung waren nichts als die verzweifelte Auseinandersetzung mit seinen Ängsten, das leere Wortgeklingel, unter dem er die grauenhafte Erwartung seines Endes verbarg.
Die Schwangerschaft seiner Frau war für ihn in diesem Augenblick eine neue Erschütterung. Er verspürte ein unbestimmtes Gefühl, große Freude und verdoppeltes Unbehagen zugleich. Im Gegensatz zu den Ideen des »Alten« erfüllte ihn der Gedanke, Vater zu sein, Leben geschaffen zu haben, mit Stolz. Wenn er zum Schein auch sagte, die Dummköpfe mißbrauchten das Recht, es ebenso zu machen, empfand er darüber doch ein eitles Erstaunen, als sei ein solches Ereignis ihm allein vorbehalten. Dann wurde diese Freude ihm vergällt, er quälte sich mit dem Vorgefühl, daß die Niederkunft einen schlechten Ausgang nehmen werde: Schon war für ihn die Mutter verloren, das Kind käme nicht einmal zur Welt. Ausgerechnet brachte die Schwangerschaft gleich in den ersten Monaten schmerzhafte Begleiterscheinungen mit sich, und das Durcheinander im Haushalt, die gestörten Gewohnheiten, die häufigen Streitigkeiten machten ihn vollends elend. Das Kind, das die Gatten einander wieder hätte näherbringen sollen, vermehrte die Mißverständnisse zwischen ihnen, die Reibungen des Zusammenlebens. Lazare war vor allem wütend, daß Louise vom Morgen bis zum Abend über irgendwelche Schmerzen klagte. Daher war er erleichtert, als der Arzt von einem Aufenthalt im Gebirge sprach; nun konnte er Louise zu ihrer Schwägerin bringen und selber unter dem Vorwand, seinen Vater in Bonneville
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