Die Freundin meines Sohnes
KAPITEL EINS
W enn mich jemand fragt, wie es mir geht – es überrascht Sie vielleicht, manche fragen noch –, zucke ich in letzter Zeit nur mit den Achseln und sage so gelassen wie möglich: »Viel besser, als Sie glauben.« Und das stimmt ja auch. Ich habe zu essen, ich habe etwas zum Anziehen, ich habe immer noch ein paar Patienten, die Nets gewinnen, meine Mutter hat Gott sei Dank doch dem betreuten Wohnen in Rockland zugestimmt. Und ich habe so etwas wie ein Zuhause – das Zimmer über der Garage, das wir für Alec eingerichtet hatten, damit er, mit unserer Liebe gerüstet und unserem Geld, dort malen kann. Alec sollte sich auf jeden Fall immer unterstützt fühlen, er sollte nichts von unserem Entsetzen mitbekommen, als er nach drei Semestern Hampshire sausen ließ und damit fast sechzigtausend Dollar für Unterricht, Bücher, Unterkunft und andere Beweise elterlicher Wertschätzung weg waren. Sechzigtausend Dollar einfach so – puff! – in Luft aufgelöst, unser Sohn schmeißt an einem College hin, an dem es nicht einmal Noten gibt , und als Reaktion darauf richten wir ihm für seine Kunst ein Atelier über unserer Garage ein. Und, das ist die Krönung, wir haben es gern getan. Es war eine von vielen Lehren, die wir aus dem Kummer unserer Freunde Joe und Iris Stern gezogen haben, die ihre Tochter Laura schon einmal verloren hatten – wie jetzt wieder.
Mein neues Zuhause, das Atelier, hat einen grauen Linoleumboden. In einer Ecke steht Alecs alter Zeichentisch neben einem breiten Futonbett, das unter einem Berg von Flugzeugdecken verschwindet. An der gegenüberliegendenWand steht die ein wenig kitschige Anrichte, Eiche mit schnörkeligen Verzierungen und Messingbeschlägen, ein Hochzeitsgeschenk von Elaines Eltern, das wir brav über zwanzig Jahre in unserem Schlafzimmer stehen hatten. Ein Sessel aus derselben Zeit. Neben dem Sessel liegt ein Stapel Bücher, ein paar von Alec, ein paar von mir: Bukowski und Burroughs, eine kleine Auswahl von Comicromanen und Thrillern, für die ich mich nicht mehr interessiere.
In diesem Atelier lese ich. Schlafe ich. Am Wochenende oder spätabends höre ich manchmal den Kriegers von nebenan zu, wenn sie sich streiten – unsere Garage steht an der Grundstücksgrenze. Die Kriegers haben vor kurzem bei sich angebaut, und jetzt kann ich, sogar ohne besondere Anstrengung, direkt in ihre Granit-Edelstahl-Küche hineinsehen und mir anschauen, wenn sie sich ankeifen. Jill Krieger ist offenbar eine Meckerziege, und Mark wirft gern mal was durch die Gegend. Wann hat das wohl angefangen? Elaine und ich haben die beiden immer gemocht, fanden sie als Paar und ihre kleinen Kinder immer nett. Okay, das mit dem Anbau hat ewig gedauert, aber wenigstens waren sie so freundlich, auf ein geschmackvolles Äußeres zu achten. Ob Elaine sie hört? So wie die zwei haben wir uns nie gestritten.
Wenn jemand weiter fragt, mir tief in die Augen blickt und ergründen will, ob in meiner wunden Seele noch irgendein Geheimnis schlummert, sage ich immer: »Das Leben geht weiter.« Das ist nicht einfach so daher gesagt. Das Leben geht wirklich weiter. Das habe ich gelernt. Es geht überraschenderweise weiter.
Aber es hat andere Zeiten gegeben. Heute zum Beispiel: Es ist Samstag, zu warm für April, ich esse mit meiner Mutter in Yonkers zu Mittag und bleibe so lange in ihrer Wohnung mit der Asbestdecke, wie sie mich lässt. Es gibt Eiersalat, wirsehen uns Law and Order an, gleich vier Episoden hintereinander, bis es schließlich Zeit für ihren Mittagsschlaf ist – Peter, sagt sie, ihre Stimme von der Mayonnaise belegt, ich hab dich lieb, aber wenn du nicht bald gehst, kriege ich einen Anfall. Also verabschiede ich mich, auch wenn das noch mal zwei Stücke Kuchen dauert, ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, steige in den verrosteten weißen Escort, den ich neuerdings fahre, überquere den Tappan Zee und fahre am Hudson entlang südlich in Richtung Palisades. Vorigen Monat habe ich da unten diesen kleinen Park entdeckt, eine kleine Anlage, die bis an den Fluss führt, ein paar Angler und verlorene Matrosen tummelten sich dort, fingen vergifteten Blaufisch und benutzten die verbeulten Portosans.
Es ist drei Uhr, als ich das Auto abstelle, und schwül. Ich setze mich auf eine Bank, deren Farbe abblättert, und krempele mir die Ärmel hoch. Junge Neureiche essen Sandwiches auf ihren Veranden, Einwanderer angeln und füllen ihre Eimer mit vergiftetem Blaufisch. Ich sehe ihnen zu, und aus
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