Die Freundin meines Sohnes
Minuten werden anderthalb Stunden. Einfach so herumsitzen kann ich neuerdings richtig gut. Das Dröhnen der Großstadt über dem Wasser, Harlem, Washington Heights. Die George Washington Bridge wirft ihren Schatten auf dem Fluss. Ich betrachte die Öllachen auf dem Hudson und rieche den verendenden Fisch.
Ich bin immer gern am Wasser gewesen, obwohl ich gar nicht viel damit anfangen kann. Ich fahre nicht Boot, ich angle nicht, und früher, als ich noch öfter zum Sport ins JCC ging, kam auf zwölfmal Basketball einmal Schwimmen. Trotzdem: Vor fünfzehn Jahren haben wir regelmäßig Strandurlaub gemacht, wir und die Sterns, sind nach Delaware gefahren, weil die Gegend uns wohltuender schien als die Küste von Jersey oder einfach nur weiter weg. Jeden Morgen suchten die Kinder das perfekte Plätzchen im Sand, keine zehnMeter vom Atlantik entfernt, wir ließen zwei Wochen lang in der grellen Augustsonne unsere Sommersprossen erblühen und aßen später im Crab Barn-Restaurant an der Route 1 zu Abend: Unmengen von gedünstetem Maryland-Blaufisch. Die Kinder der Sterns (erst zwei, dann drei, dann vier, und alle miteinander rotes Haar, genau wie Iris, sie war unglaublich fruchtbar) saugten voller Wonne an Krabbenbeinen, mein mäkeliger Sohn schälte umständlich eine Garnele, weil er Essen mit Scheren nicht mochte. Neal Stern, sieben Monate jünger als Alec, schob sich den Rückenschild einer Krabbe ins Gesicht. Iris Stern wischte sich Old-Bay-Seasoning von den langen Fingern.
Jahrelang war das ein Sommerritual, bis Laura, die Älteste der Sterns, in die Highschool kam und Familienurlaube und fünfstündige Autofahrten ihre Geduld überforderten. Jedes Jahr dieselbe Unterkunft: ein wackeliges Holzhaus in der Brooklyn Avenue mit Waschmaschine, aber ohne Trockner, einer Spülmaschine, die summte, drei Blocks von der Hauptstraße, einen Block vom Strand entfernt. Nautischer Kitsch in den Badezimmern, Sand und Salz in allen Ritzen. Die Kinder rannten den ganzen Tag halbnackt herum, Elaine behielt sittsam ihr schwarzes Frotteekleid an, und Iris trug einen weißen Bikini. Wenn Joe glaubte, dass ihn niemand hörte, zog er sie damit auf: »Wird der durchsichtig, wenn ich dich nassspritze?« Ich gab mir Mühe, derlei zu überhören.
Schon damals verbrachte ich gern allein Zeit am Wasser, sah den Alten zu, die abends eine Stunde vor Ebbe Muscheln sammelten. Kinder sprangen um ihre Großväter herum, hockten sich mit ihren Plastiksieben hin und schaufelten erfolglos mit ihren Händen Sand in die Siebe, während die alten Männer bedächtig ein weiteres Mal dieselben Wege nach Muscheln absuchten. Ich träumte davon, mir eine Lizenz fürs Krabbenfischen und Muschelnsammeln zu besorgen, diePraxis aufzugeben und mit der ganzen Familie in eins der klapprigen Häuser an der Küste von Delaware zu ziehen, wo es immer warm war und Sonnenuntergänge gab und Iris Stern in ihrem weißen Bikini in der Küche Kaffee kochte und mein Sohn lachte und tagelang einfach nur herumrannte. Dann war die Ebbe da, ich ging zurück ins Haus und duschte, und mir fiel wieder ein, wer ich war und wo ich herkam: ein Internist aus New Jersey, Studium mithilfe von Stipendien, in Yonkers aufgewachsen, seit über zehn Jahren verheiratet. Ehemann, Vater, Basketball-Fan.
Ich war nie so dankbar für alles, was ich hatte, wie ich hätte sein sollen.
Hier auf meiner Bank unterhalb des Palisades kommen jetzt die Mücken, und die Angler packen zusammen. Ein rot-weißes Schnellboot fährt gemächlich am Park entlang, Wellen schlagen gegen die Holzpfähle, die den Park vor dem Schlamm des Hudson schützen. Am Steuer sitzt ein junger Mann, ganz allein, was ich ungewöhnlich finde an einem Samstag in einem Sportboot. Er steuert mit einer Hand und trinkt ein Bier. Eigentlich sollte er eine Crew spärlich bekleideter Blondinen bei sich haben. Ein Radio müsste wummern.
Auf der anderen Seite des Flusses geht hinter der Riverside Church die Sonne unter, taucht das Gebäude in ein glutrotes Licht.
»Kennen Sie den in dem Boot?«, fragt mich der letzte Angler, der noch da ist, als das Schnellboot noch einmal langsam an den Pfählen vorbeigefahren ist.
»Sollte ich?«
Der Angler zuckt mit den Achseln. »Er guckt, als würde er Sie kennen.«
Ich schaue den Mann fragend an.
»So, wie der seine Kreise zieht«, sagt der Mann und reibt sich mit einer fischigen alten Hand das Kinn.
»Mich kennt niemand«, sage ich melodramatisch. Das entspricht, nebenbei bemerkt, nicht ganz der
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