Die Furcht des Weisen / Band 1
Bast kam aus der Küche, einen Haufen dorniger Stechpalmenzweige auf den Armen, die in ein weißes Tuch gewickelt waren.
Kote nickte entschlossen und rieb sich die Hände. »Wunderbar. Also wie –« Er kniff die Augen zusammen. »Ist das etwa eins von meinen guten Laken?«
Bast blickte auf das Bündel hinab. »Na ja, Reshi«, sagte er. »Kommt drauf an. Hast du auch schlechte Laken?«
Die Augen des Wirts blitzten kurz wütend, doch dann seufzte er. »Ist ja auch egal.« Er zog einen langen Zweig aus dem Bündel hervor. »Und was machen wir damit?«
Bast zuckte die Achseln. »Ich tappe da selber auch im Dunkeln, |27| Reshi. Ich weiß nur, dass die Reiter der Sithe Stechpalmenkronen trugen, wenn sie Jagd auf die Hauttänzer machten …«
»Wir können hier aber nicht mit Stechpalmenkronen auf dem Kopf herumlaufen«, sagte Kote. »Was sollen denn die Leute denken?«
»Mir doch egal, was diese Bauerndeppen denken«, murmelte Bast und begann, einige der langen, biegsamen Zweige miteinander zu verflechten. »Wenn so ein Hauttänzer in deinen Körper schlüpft, wirst du zu seiner Marionette. Die können einen dazu bringen, dass man sich selbst die Zunge abbeißt.« Er hob sich einen halb fertigen Kranz über den Kopf und probierte, ob er passte. Dabei rümpfte er die Nase. »Piekst.«
»In den Geschichten, die ich gehört habe«, sagte Kote, »konnte man sie mit Stechpalmenzweigen auch in einem Körper gefangen halten.«
»Könnten wir nicht einfach nur etwas Eisen an uns tragen?«, fragte der Chronist. Die beiden Männern hinterm Tresen guckten ihn neugierig an, als hätten sie fast vergessen, dass er auch noch da war. »Es ist ja schließlich ein Faeling-Wesen.«
»Sagt nicht ›Faeling‹«, sagte Bast. »Ihr hört Euch ja an wie ein kleines Kind. Es ist ein Fae-Wesen. Ein Faen, wenn’s sein muss.«
Der Chronist zögerte kurz, ehe er fortfuhr. »Wenn dieses Wesen in den Körper von jemandem schlüpft, der Eisen an sich trägt – würde ihm das nicht wehtun? Würde es nicht sofort wieder herausschlüpfen?«
»Die können einen dazu bringen,
dass man sich selbst die Zunge abbeißt
«, sagte Bast noch einmal, wie zu einem ganz besonders dummen Kind. »Wenn sie erst mal in einem stecken, reißen sie einem mit der eigenen Hand ein Auge aus. Das geht so einfach, wie man eine Blume pflückt. Wie kommt Ihr darauf, sie könnten sich nicht die Zeit nehmen, einen Armreif oder Ring zu entfernen?« Er schüttelte den Kopf und sah dann auf seine Finger hinab, die geschickt einen weiteren hellgrünen Stechpalmenzweig in den Kranz einflochten. »Und außerdem kommt es überhaupt nicht in Frage, dass ich Eisen trage.«
»Wenn sie aus Körpern einfach so auch wieder herausschlüpfen können«, sagte der Chronist, »wieso hat dann der gestern Abend den |28| Körper dieses Mannes nicht einfach wieder verlassen? Wieso ist er nicht auf einen von uns übergesprungen?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, bis Bast bemerkte, dass die beiden anderen Männer ihn ansahen. »Da fragt Ihr mich?« Er lachte ungläubig. »Keine Ahnung.
Anpauen
. Die letzten Hauttänzer wurden vor Hunderten von Jahren zur Strecke gebracht. Lange vor meiner Zeit. Ich kenne das nur aus Geschichten.«
»Woher wissen wir dann, dass er
nicht
übergesprungen ist?«, fragte der Chronist zögernd, als wagte er kaum, das anzusprechen. »Woher wissen wir, dass er nicht immer noch hier ist?« Er saß mit einem Mal ganz starr da. »Woher wissen wir, dass er jetzt nicht in einem von uns steckt?«
»Er scheint gestorben zu sein, als der Körper des Söldners starb«, sagte Kote. »Sonst hätten wir ihn entweichen sehen.« Er sah zu Bast hinüber. »Das sieht doch angeblich aus wie ein dunkler Schatten oder ein Rauchwölkchen, wenn sie aus einem Körper entweichen, nicht wahr?«
Bast nickte. »Und außerdem: Wenn er übergesprungen wäre, hätte er in dem neuen Körper wieder damit angefangen, Leute umzubringen. So machen sie es normalerweise. Sie springen immer weiter über, bis keiner mehr am Leben ist.«
Der Wirt schenkte dem Chronisten ein beruhigendes Lächeln. »Seht Ihr? Vielleicht war es ja gar kein Hauttänzer. Vielleicht war es nur etwas Ähnliches.«
Der Chronist blickte dennoch verunsichert. »Aber wie können wir da sicher sein? Er könnte jetzt in jedem hier im Ort stecken …«
»Zum Beispiel in mir«, sagte Bast ganz unbekümmert. »Vielleicht warte ich nur darauf, dass Ihr einen Moment lang nicht aufpasst, und dann beiße ich Euch in die
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