Die Galerie der Nachtigallen
flache Scheibe mit dem Himmel darüber und der
Hölle darunter.« Jetzt streckte er den rechten Arm aus,
die Hand fest geballt. »Ptolemäus, Aristoteles und die
Klassiker dagegen glauben, daß die Erde eine Kugel in einem
kugelförmigen Universum sei. Jeder Stern, jeder Planet ist
eine Welt in sich.«
Benedicta ließ
sich auf die Fersen zurücksinken.
»Mein
Vater«, erwiderte sie spitz, »hat gesagt, die Sterne
seien Gottes Lichter am Firmament, die zu Beginn aller Zeit von den
Engeln dort auf gesteckt wurden.«
Athelstan wußte,
daß sie ihn necken wollte.
»Dein Vater
hatte recht.« Er zuckte betreten die Achseln. »In
Exeter Hall zu Oxford habe ich die größten Denker
studiert. Am Ende verblassen alle ihre Erklärungen vor den
Schöpfungswundern Gottes.«
Benedicta nickte; ihr
Blick war jetzt ernst, das Scherzen vorüber. »Warum
verbringt Ihr also so viel Zeit dort, Pater? In der Nacht, auf der
Spitze des Kirchturms? Wir können Eure Laterne
sehen.«
Athelstan
schüttelte den Kopf.
»Ich weiß
es nicht«, sagte er leise. »Aber wenn man in einer
klaren Sommernacht in die samtige Schwärze hinausschaut und
die Bewegungen der Planeten verfolgt, das schimmernde Licht des
Abendsterns, dann verliert man sich in dieser Weite.« Er sah
sie scharf an. »Näher kann der Mensch der Ewigkeit nicht
kommen, ohne durch die Pforte des Todes zu schreiten. Wenn ich dort
oben bin, dann bin ich nicht länger Athelstan, Priester und
Ordensbruder. Ich bin nur noch ein Mensch und aller Sorgen
ledig.«
Benedicta schlug die
Augen nieder und berührte die Altarstufen mit sanften
Fingerspitzen.
»Heute
abend«, murmelte sie, »werde ich es auch tun. Zum
Himmel hinaufschauen und sehen, wie es ist, zu sterben, ohne zu
sterben.«
Rasch erhob sie sich,
beugte das Knie vor dem flackernden Ewigen Licht und verließ
leise die Kirche.
Athelstan sah, wie die
Tür hinter ihr ins Schloß fiel und wandte sich
Bonaventura zu, der auf seine Belohnung wartete. Der Ordensbruder
ging in die Sakristei und holte das erwartete Schälchen Milch.
Dann setzte er sich und sah zu, wie der Kater gierig den
weißen Schaum mit rosiger Zunge aufleckte.
»Weißt du,
Bonaventura«, sagte er leise, »immer wenn sie geht,
möchte ich sie zurückrufen. Sie kommt hierher, um
für die Seele ihres Mannes zu beten, auch ein Kriegsopfer des
Königs. Aber manchmal gaukle ich mir vor, daß sie kommt,
um sich mit mir zu unterhalten.«
Der Kater hob den
ramponierten Kopf, gähnte und widmete sich wieder seiner
Milch.
»Der Meister
hatte recht«, fuhr Athelstan fort; sein alter Novizenmeister,
Pater Bernhard, war ihm plötzlich eingefallen, der in
Blackfriars für Athelstans geistliche Erziehung verantwortlich
gewesen war.
»Im Leben eines
Priesters, Athelstan«, hatte Pater Bernhard einst begonnen,
»gibt es drei große Schrecknisse. Die erste, das sind
die Gelüste des Fleisches. Sie werden deine Träume
heimsuchen mit Visionen von weichen Leibern, seidig schimmernden
Gliedern, vollen, sinnlichen Lippen und Haar, das glänzt wie
poliertes Gold. Aber das wird vergehen. Beten, Fasten und das Alter
werden diesen Feind aus dem Felde schlagen.« Der alte
Novizenmeister hatte sich vorgebeugt und Athelstan bei den
Handgelenken gepackt. »Dann kommt der zweite Schrecken: die
absolute, seelenvernichtende Einsamkeit eines Priesters. Keine
Frau, keine Kinder, niemals die Umarmung kleiner warmer
Körper, niemals Ärmchen, die sich um deinen Hals
schlingen. Aber auch das wird vergehen. Der dritte Schrecken ist
noch gräßlicher.« Athelstan erinnerte sich,
daß dem alten Priester die Tränen in die Augen gestiegen
waren. »Es gibt den Glauben«, hatte der Novizenmeister
geflüstert, »daß es jedem Menschen , der zur Welt
kommt, bestimmt sei, einen anderen zu lieben. Nun, manchmal haben
wir Priester Glück und begegnen diesem anderen Menschen nicht
in den frühen Tagen unserer Pilgerreise. Aber wenn es doch
geschieht, dann wirst du wahrhaft alle Schrecken der dunklen Nacht
der Seele erfahren.« Der Novizenmeister hatte geschwiegen und
schließlich weitergesprochen. »Kannst du dir das
vorstellen, Athelstan, dieser Liebe zu begegnen, und dann, durch
Gottes Gesetz, ihr niemals Ausdruck geben zu dürfen? Tust du
es doch, so brichst du deine Gelübde als Priester, und die
Kirche verdammt dich zu ewigem Höllenfeuer. Bleibst du aber
deinem Gelübde treu, so brennst du in einem Höllenfeuer,
das du selbst entfachst, denn du wirst sie nie vergessen. Du suchst
ihr Gesicht in der
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