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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Gestirne
studieren.«
    »Wieso?«
wollte Cranston brüsk wissen. »Du glaubst doch wohl
nicht diesen Unsinn von den Sternen und Planeten, die unser Leben
regieren? Sogar die Kirchenväter verdammen
das.«
    »In diesem
Falle«, versetzte Athelstan, »verdammen sie den Stern
von Bethlehem.«
    Sir John rülpste,
packte den stets gegenwärtigen Weinschlauch, der an seinem
Sattelknauf hing, und nahm einen tiefen Schluck. Dann hob er eine
Hinterbacke aus dem Sattel und furzte, so laut er konnte. Athelstan
beschloß, Sir Johns Meinung, unausgesprochen oder sonstwie
geäußert, zu ignorieren. Er wußte, daß der
Coroner im Grunde ein gutmütiger Mann war.
    »Was sollen wir
in Cheapside?« erkundigte er sich.
    »Sir Thomas
Springall«, antwortete Cranston. »Besser gesagt, der
verstorbene Sir Thomas Springall, ehedem mächtiger Kaufmann
und Goldschmied. Jetzt ist er so tot wie die Ratte da
drüben.« Cranston deutete auf einen Müllhaufen -ein
Gemisch aus tierischen und menschlichen Exkrementen und
zerbrochenen Töpfen, auf dem eine räudige Ratte lag. Ihr
rostbraun und weiß gefleckter Körper war in der
Verwesung
aufgedunsen.       
    »Es ist also ein
Goldschmied gestorben?«
    »Ermordet
worden. Anscheinend war der Bürger Springall nicht beliebt bei
seinem Majordomus Edmund Brampton. Letzte Nacht ließ Brampton
einen vergifteten Becher im Gemach seines Herrn zurück. Sir
Thomas wurde tot aufgefunden, und Brampton entdeckte man
später: Er baumelte am Balken in einer
Dachkammer.«
    »Und jetzt
reiten wir dorthin?«
    »Nicht
sofort«, antwortete Cranston. »Erst wünscht
Oberrichter Fortescue uns zu empfangen, in Alphen House in Castle
Yard bei Holborn.«
    Athelstan schloß
die Augen. Oberrichter Fortescue rangierte an erster Stelle auf der
Liste der Leute, die er lieber nicht sehen wollte. Ein
mächtiger Höfling, ein korrupter Richter, ein Mann, der
Schmiergeld nahm und denjenigen, die mächtiger waren als er,
Gefälligkeiten erwies. Unter den kleinen Ganoven von Southwark
war die Skrupellosigkeit des Oberrichters
sprichwörtlich.
    »Daher«,
unterbrach Cranston leutselig Athelstans Gedankengang,
»werden wir also erst den Oberrichter besuchen und uns dann
den Toten in Cheapside ansehen. Kaufleute, die von ihren
Dienstboten ermordet werden! Dienstboten, die sich dann
aufhängen! Tz, tz! Was soll noch aus dieser Welt
werden?«
    »Das weiß
Gott allein«, entgegnete Athelstan. »Wenn schon Coroner
saufen und furzen und bissige Bemerkungen über Menschen
machen, die bei all ihren Unzulänglichkeiten immer noch
Menschen sind, egal ob sie nun Priester oder Kaufleute
...«
    Sir John lachte, trieb
sein Pferd näher heran und schlug Athelstan freundschaftlich
auf die Schulter.
    »Du
gefällst mir, Bruder«, trompetete er. »Aber
weshalb dein Orden dich nach Southwark geschickt und dein Prior
dich zum Schreiber eines Untersuchungsrichters gemacht hat,
weiß Gott allein!«
    Athelstan gab darauf
keine Antwort. Sie hatten solche Gespräche schon öfter
geführt: Sir John hatte gebohrt, und er hatte gemauert. Eines
Tages, beschloß Athelstan, würde er Sir John die ganze
Wahrheit sagen, obwohl er den Verdacht hatte, daß der Coroner
sie schon kannte.
    »Ist das eine
Wiedergutmachung?« fragte Cranston jetzt.
»Neugier«, gab Athelstan zurück, »kann eine
schwere Sünde sein, Sir John.«
    Wieder lachte der
Coroner und lenkte das Gespräch geschickt auf andere
Dinge.
    Sie ritten durch enge,
stinkende Gassen und folgten dem Fluß bis zur London Bridge.
Sie überquerten Marktplätze, wo die Häuser so hoch
waren, daß sie die aufgehende Sonne verdeckten. In der
Nähe der Brücke begegneten sie anderen Reitern,
mächtigen, großspurigen Lords auf eisenbeschlagenen
Schlachtrössern in einer Wolke aus Seide und Pelz, die
Köpfe hoch erhoben - stolz, arrogant und rücksichtslos
wie die Falken auf ihren Fäusten. Athelstan betrachtete sie
aufmerksam. Ihre Weiber waren nicht besser mit ihren gezupften
Brauen und den weißen Gesichtern, die weichen, sinnlichen
Leiber in feinstes Leinen und Samt gekleidet, die Köpfe von
üppigen Schleiern umspielt. Er wußte, daß nur
einen Münzenwurf weiter eine bleiche, magere Frau summend ihr
sterbendes Kind im Arm hielt und um ein Stück Brot bettelte.
Niedergeschlagenheit verdunkelte seine Seele. Gott sollte Feuer vom
Himmel fallen lassen, dachte er, oder einen Führer, der die
Armen aufrührt. Dann biß er sich auf die Lippe. Wenn er
predigen würde, was er da dachte, dann würde er sich

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