Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
an den Häusern vorbeikam: Leashno, Tarin, Wexler. Tote Bäume, Stille und Verwüstung. War die ganze Welt verrückt geworden? Gott? Wo bist du?
Der Gesang rauher Stimmen wurde vom Wind herangetragen und Rachel erschauderte. Planetare Marines. Als sie um eine Ecke bog, erspähte sie einen Schutthaufen. Sie zog Sybil mit sich, schob sich durch den kopfhoch aufgetürmten Müll bis zur anderen Seite und kroch dort in die dichten Schatten des überhängenden Gebäudes. Benzinkanister und stinkende Konservendosen umgaben sie; es roch streng nach verfaultem Fisch und saurer Milch. Sybil strich sich die braunen Locken aus der Stirn und schaute mit großen, gequälten Augen auf. »Wo ist Daddy?«
»Ich hab’ keine … Er ist zu Hause, Kind. Es ist alles in Ordnung. Wir sehen ihn bald.«
»Warum ist er nicht gekommen, um uns zu holen, als die bösen Männer den Tempel niedergebrannt haben?«
Rachels Herz schlug bis zum Hals. Sie wischte sich die verschwitzten Handflächen an ihrer langen blauen Robe ab. Es war die Woche des Sighet, die heilige Woche, in der die Befreiung des Volkes der Gamanten aus den schrecklichen Arbeitslagern der bösen Edom Middoth gefeiert wurde. Doch alle Tempel auf Horeb waren geschlossen … alle außer einem. Adom Kemar Tartarus hielt seine blasphemischen Zeremonien in seinem prachtvollen Palast ab, während Hunderte von Arbeitern den neuen Tempel für Milcom fertigstellten. Jeden Tag warfen die Menschen sich vor dem wachsenden Bauwerk in den Staub. Lieber Gott, wie konnten sie nur? Verräter! Sie und Shadrach hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um eine illegale. Sighet-Feier im Keller eines zerstörten und verlassenen Tempels in den Außenbezirken der Stadt abzuhalten. Ein häßliches Ding, dessen zusammengebrochene Mauern wie das zahnbewehrte Maul eines Tieres aussahen. An diesem Morgen, dem vierten Tag des Sighet, hielten sie gerade ihren Festschmaus, als die Truppen des Mashiah ihr Heiligtum stürmten und wahllos in die Menge schossen.
»Mommy? Warum ist Daddy nicht gekommen, als die bösen Männer …?«
»Er … er mußte nach Hause. Wir fragen ihn, wenn wir dort sind, in Ordnung?«
»Du belügst mich, nicht wahr?« flüsterte Sybil angstvoll. »Bitte belüg mich nicht. Ich muß wissen, ob …«
»Psst. Ich belüge dich nicht. Ich … ich …«
»Können wir zu ihm gehen? Ich will zu meinem Daddy.«
Rachel glättete das zerzauste Haar ihrer Tochter und küßte sie auf die Stirn. »Bald, Kleines. Wir müssen hier nur noch ein Weilchen still sitzenbleiben …« Ihre Stimme brach ab, und Angst packte sie, als Geräusche von der Straße an ihr Ohr drangen. Stiefel auf Stein. Das Summen eines Gewehrs.
»Hier drüben!« rief jemand.
Rachel erstarrte, als das Dröhnen der Schritte näher kam. Sybils Augen weiteten sich, und sie krallte ihre Finger in Rachels blauen Ärmel.
»Mommy, was …«
Rachel preßte eine Hand auf Sybils Mund, ohne zu bemerken, mit welcher Kraft sie zudrückte. Als das Kind wild über ihre Finger kratzte, schüttelte Rachel sie böse und flüsterte: »Laß das! Psst!« Sybils kleiner Kopf zuckte, ihr Gesicht verzog sich. Dann sank sie in den Schoß ihrer Mutter. Sie weigerte sich, zu ihr aufzusehen, doch Rachel konnte die Tränen spüren, die ihre Robe näßten.
»Es tut mir leid, Sybil. Bitte, ich wollte nicht …«
»Komm da raus!« befahl eine rauhe männliche Stimme. »Ich weiß, daß du dort bist. Ich kann euch dreckige Dämonenanbeter riechen. Komm raus, oder ich schieße.«
Zitternd schob Rachel Sybil hinter sich, verbarg sie so gut es ging unter einem schmutzigen, schimmelbedeckten Karton und legte einen Finger auf ihre Lippen. Die Augen des kleinen Mädchens füllten sich mit Tränen. In stummem Flehen streckte sie die Arme aus. Kleine Finger bewegten sich auf eine Weise, die »halte mich, halte mich« ausdrückte. Rachels Lippen formten die Worte »nein« und »still«.
»Verdammt noch mal! Ich weiß, daß du dort bist. Hörst du das hier?« Das Zischen eines Impulsgewehrs, das auf volle Ladung geschaltet wurde, drang an ihre Ohren.
»Mommy …«
»Hier!« rief Rachel und stolperte über eine Kiste. »Nicht schießen. Ich komme heraus.« Sie schob sich schnell durch den Müll und blieb in einem Sonnenstrahl stehen, der zwischen den hohen Gebäuden hindurch fiel. Ihr schwarzes Haar flatterte in einem Windstoß, der roten Staub bis zu den verbrannten Dachfirsten emporwirbelte.
Der Marine vor ihr senkte sein Gewehr. Ein sadistisches Lächeln
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