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Die Gebeine von Avalon

Die Gebeine von Avalon

Titel: Die Gebeine von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Nicht von dieser Welt
    Das Omen
     
    I ch muss an jenem Morgen der Einzige gewesen sein, der es berührte. Alle versammelten sich in einem engen Kreis um mich herum auf der Gasse, als ich aber die Hand in den Sarg steckte, wichen sie zurück.
    Ein trüber Tag am Jahresanfang. Der Himmel wie ein schmutziger Lumpen, dreckige Schneereste auf dem Kopfsteinpflaster. Zum vielleicht letzten Mal war ich aus meinem Quartier hinter der New Fish Street auf die Straße getreten, die Luft war bereits vom Rauch der morgendlich entfachten Feuerstellen geschwängert. Es stank in der Gasse nach Ale und Erbrochenem, und alles atmete Angst.
    «Dr. Dee …»
    Der Mann, der sich einen Weg durch die Menschentraube bahnte, trug einen langen schwarzen Umhang über einem schwarzen Wams – teuer, aber ohne Schlitze. Das mausbraune, sehr kurz geschnittene Haar schmiegte sich eng an seinen Kopf.
    «Möglicherweise erinnert Ihr Euch nicht mehr an mich, Doktor …»
    Seine Stimme klang weich, wodurch er jünger wirkte, als er aussah.
    «Hm …»
    «Ich kam erst kurz bevor Ihr die Universität verlassen habt nach Cambridge.»
    Ich fuhr vorsichtig mit dem Fingernagel über das gelbliche Gesicht im Sarg. An wen man sich heutzutage alles erinnern sollte! Und wozu, bitte? Aus einem Jemand wurde blitzschnell ein Niemand, der wieder in der Versenkung verschwand. Pure Verschwendung kostbarer Studierzeit!
    «Eine recht große Universität», sagte ich.
    «Zu jener Zeit habt Ihr doch Griechisch gelehrt?»
    Dann musste er von den Jahren 1547 und 1548 sprechen. Seitdem war ich nicht mehr in Cambridge gewesen und hatte anschließend mehrfach das Angebot einer Anstellung dort abgelehnt – zum ausgesprochenen Missfallen meiner Mutter.
    Ich schaute zu ihm hoch und schüttelte entschuldigend den Kopf, weil ich wirklich nicht wusste, wer er war.
    «Walsingham», erklärte er.
    Ja, ich hatte von ihm gehört. Er war jetzt Parlamentsmitglied, ungefähr fünf Jahre jünger als ich, also noch immer in seinen Zwanzigern. Ehrgeizig sollte er sein, so wurde gemunkelt, und sich angeblich bei Cecil einschmeicheln, um weiterzukommen. Der Mann, den er mit einer Nachricht zu mir geschickt hatte, hatte vor acht Uhr an meine Tür gehämmert, als es draußen noch dunkel war. Derlei war gar nicht nach meinem Geschmack, es hatte mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Tut es heute immer noch.
    «Glück gehabt, dass Ihr mich noch antrefft, Master Walsingham. Ich wollte London gerade verlassen, um zu meiner Mutter nach Mortlake zurückzukehren.»
    «Wohl nicht auf Dauer, wie ich hoffe?»
    Ich musterte ihn misstrauisch. Erst vor einer Woche hatte mir der Raffzahn, dem das Haus mit meinem Quartier gehörte, die Miete noch einmal so erhöht, dass sie meine Mittel endgültig überstieg – vielleicht erlag er, wie inzwischen so viele, dem Irrtum, ich wäre ein vermögender Mann. Es hatte fast den Anschein, als wäre Walsingham über meine missliche Lage bestens im Bilde. Wie war das möglich? Zudem sprach er mit einer so selbstverständlichen Autorität, wie es einem einfachen Parlamentsmitglied nach meinem Dafürhalten ganz bestimmt nicht zustand.
    Dennoch, die ganze Angelegenheit hatte meine Neugier geweckt, und so wollte ich ihn noch ein wenig gewähren lassen.
    «Wachs?», fragte er.
    Er hockte sich mir gegenüber auf die andere Seite des Sarges, der über eine steinerne Pferdetränke gelegt war. Streckte einen Zeigefinger aus, um das Gesicht zu berühren, zog ihn dann aber wieder zurück.
    «Das werden wir gleich sehen», sagte ich.
    Und weil ich von all dem Aberglauben nun genug hatte, griff ich mit beiden Händen in den Sarg und hob das Bündel heraus. Als ich mich vorbeugte, um daran zu riechen, rang jemand hinter mir vor Schreck hörbar nach Luft.
    «Bienenwachs.»
    «Demnach aus einer Kirche gestohlen?»
    «Das ist zu vermuten. Über einer Flamme geformt. Schaut Euch den Fingerabdruck hier an.»
    Das Ding aus dem Sarg hatte nackt auf einem roten Tuch gelegen, dessen Saum mit Gold abgesetzt war. Die Figur war eine halbe Elle lang und ungefähr eine Hand breit. Die Augen waren leere Höhlen, der Mund ein blutig roter Schnitt. Ein verschmierter Abdruck befand sich oberhalb einer überdrallen Brust, und ein weiterer roter Klumpen formte eine dunkle Beere im Schritt.
    «Eine Altarkerze?», wollte Walsingham wissen.
    «Könnte sein. Wart Ihr es, der den Sarg entdeckt hat?»
    «Mein Sekretär. Ich lebe nicht weit von hier entfernt, in der Nähe der Themse. Er glaubte

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